Interview

Carl Gierstorfer: ‚Man kann es nicht schönreden‘

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Der rbb strahlt «Ukraine – Kriegstagebuch einer Kinderärztin», der in den vergangenen zwölf Monaten entstanden ist, am Mittwochabend aus.

Hallo Herr Gierstorfer, Sie begleiten in Ihren Dokumentarfilm «Ukraine: Kriegstagebuch einer Kinderärztin» Wira Primakova im Kinderkrankenhaus Okhmatdyt. Wie sind Sie auf aufmerksam geworden?
Ich bin auf Wira Primakova aufmerksam geworden, weil ich zu Beginn des Krieges mit einem ukrainischen Arzt, der eigentlich am Universitätsklinikum Tübingen arbeitet, in der Ukraine war. Wir sind zusammen in das Kinderkrankenhaus Okhmatdyt gegangen und dort hat Wira Primakova die beiden Frühgeborenen behandelt, die man auch im Film sieht. Ich bin auf Wira aufmerksam geworden, weil wir eigentlich nur kurz darüber sprachen, wie es den Frühchen geht, wie die Behandlung aussieht. Ich habe sie dann gefragt, wie sie eigentlich den Krieg erlebt. Und dann habe ich gesehen: sie hat versucht, die Tränen zurückzuhalten, konnte mir keine richtige Antwort geben. In dem Moment habe ich verstanden, dass da, sehr viel dahintersteckt; dass das eine Frau ist, bei der man sehr viel entdecken kann. Dann habe ich zu ihr gesagt, ob es in Ordnung ist, wenn ich morgen wieder komme. Und sie hat gesagt: ‚ja klar‘. Und aus diesem Morgen sind dann viele Wochen geworden.

Die russische Armee überfiel am 24. Februar 2022 die Ukraine, bereits im März haben Sie mit ihrem Team gefilmt. Wie sah die Vorbereitungszeit aus?
Es gab keine wirkliche Vorbereitungszeit. Ich glaube, wie wir alle, war auch ich am 24. Februar sehr überrascht und schockiert, dass Russland tatsächlich in der Ukraine einmarschiert. Ich habe mich schon sehr lange für diese Region interessiert. Ich habe versucht, die historische Dimension zu erfassen. Die Entscheidung, in die Ukraine zu fahren, war jedoch spontan. Und meine Vorbereitung war, dass ich Kontakte zu Ärzten geknüpft hatte. Die Reise in die Ukraine hat sich so ergeben: Ich bin einfach an die polnisch-ukrainische Grenze gefahren. Der Vater von Serghii, dem Arzt vom Uniklinikum Tübingen, hat mich in Polen abgeholt, weil er über 60 ist und damit ausreisen durfte. Er brachte mich nach Lemberg. Dort habe ich mir die ersten Wochen ein winzig kleines Zimmer mit Serhii geteilt. Wir haben die Stadt erkundet, Krankenhäuser besucht. Serhii wollte an die Front und dort als Arzt helfen, was er dann auch gemacht hat. Ich bin erst mal in Lemberg geblieben, war aber das ganze Jahr über immer wieder für mehrere Wochen in der Ukraine. Ich habe zum Beispiel für das «ZDFauslandsjournal» eine Reportage in einem Frontlazarett gedreht. Das war im Südosten, nahe der Front. Ich war in Kiew, ich war in Saporischschja. Aber die meiste Zeit war ich in Lemberg.

Ihr Produktionsort Lwiw war an der Grenze zu Polen. Fühlten Sie sich zu jederzeit sicher?
In Lemberg habe ich mich relativ sicher gefühlt, aber zu Beginn des Krieges war alles sehr unklar. Die russischen Truppen waren noch in Kiew, man wusste nicht, wie sich der Krieg entwickeln würde und dass die Ukrainer natürlich auch so erfolgreich Widerstand leisten würden. Aber der Krieg ist auch nach Lemberg gekommen. Vor allem im April, Mai gab es immer wieder schwere Raketenangriffe, auch zuletzt im November, als ich dort war, weil regelmäßig die Stromversorgung und die Infrastruktur angegriffen wird. Im Stadtzentrum ist man relativ sicher, man kann in Restaurants gehen, flanieren. Die Raketenangriffe sind meistens auf militärische Ziele, auf die Stromversorgung, auf Umspannwerke. Aber man hat auch in Städten wie Winnyzja oder Kramatorsk gesehen, dass auch zivile Ziele angegriffen werden. Ich denke, man muss eine Risikoabwägung machen und muss sich genau überlegen, was sind die wirklichen, die tatsächlichen Risiken. Wenn dann Raketenangriffe waren, und die waren im November auch sehr spürbar, also nicht nur hörbar, sondern auch spürbar, klar, dann hat man schon ein mulmiges Gefühl.

Sie haben alleine gedreht. Gab es Kollegen, die aufgrund der Gefahrenlage von der Produktion abgesehen haben?
Die Kollegen haben mir nicht davon abgeraten. Es gibt ja einen engen Austausch und eine Risikoanalyse und ich glaube, das Risiko war auch vertretbar. Die Entscheidung, dort hinzufahren, war letztendlich auch meine Entscheidung.

Die Produktion von «Ukraine: Kriegstagebuch einer Kinderärztin» begann recht schnell. Waren der Rundfunk Berlin-Brandenburg und arte direkt hinter Ihnen gestanden oder sind Sie erst einmal in Vorleistung gegangen?
Ich hatte jetzt wirklich kein konkretes Projekt im Kopf. Ursprünglich wollte ich mit Serhii nach Kiew fahren und dann weiter an die Front. Aber dann habe ich Wira kennengelernt und hatte das Gefühl, dass ich bei Wira bleiben sollte, weil ich instinktiv als Dokumentarfilmer dahin gehe, wo die Herde nicht hingeht. Ich habe auch schon sehr viel in Krankenhäusern gedreht, ich kenne das Umfeld, ich weiß, was mich dort emotional erwartet und darauf kann ich mich auch einstellen. Der Sender war relativ schnell an Bord, sobald ich kommuniziert habe, ich habe hier einen wunderbaren Menschen, den ich länger begleiten kann, der sich mir auch öffnet. Da war der RBB sofort sehr interessiert und sehr engagiert. Ich weiß nicht, wann die Verträge unterschrieben wurden, aber es gibt ja auch mündliche Absprachen, wir haben auch die «Charité»-Serie mit dem RBB verwirklicht, also haben wir ein gutes Arbeitsverhältnis. Ich glaube, ich bin jetzt kein Autor, der zu viel verspricht, sondern ich versuche immer, das ganz nüchtern einzuschätzen. Daher das Vertrauen.

Der Ehemann von Wira kämpfte zu Beginn der Dokumentation an der Front. Was ist aus ihm geworden?
Wiras Mann kämpft immer noch. Er war in Bachmut, was sehr schwer für ihn ist, und auch sehr schwer für die Familie. Ich glaube, er wird auch immer mehr traumatisiert und es ist für ihn schwierig, in die Normalität zurückzufinden. Das macht es für Wira und die Kinder auch nicht einfach. Er hat immer wieder Fronturlaub, kommt für kurze Zeit zurück, bevor er wieder kämpft.

Sie zeigen brutale Bilder aus der Intensivstation. Wie verarbeiten Sie solche Dramen?
Das sind brutale Bilder von der Intensivstation, aber es sind bei weitem nicht die brutalsten Bilder, die ich gesehen habe. Ich habe davon sehr wenig gedreht, weil ich für mich entschieden habe, dass es zu weit geht, auch aus Respekt Wanja gegenüber. Ich habe nach seiner Einlieferung auch einen Tag verstreichen lassen und mit ihm gesprochen, genauso wie mit seiner Mutter. Wir haben abgesprochen, was uns beiden wichtig ist, ob es überhaupt okay ist, dass ich weiter drehe. Aber sie wollten das. Ich glaube, man muss es auch bis zu einem gewissen Grad zeigen, da bin ich durchaus hart. Man kann es nicht schönreden, es war ein 13-jähriger Junge damals, jetzt ist er 14, der schwerste Verletzungen hatte, der wahrscheinlich nicht überlebt hätte, wenn er in der Ukraine geblieben und nicht in die Charité evakuiert worden wäre. Das ist die Realität und ich bin fest davon überzeugt, das man das auch zeigen und dem Zuseher zumuten muss.

Gehen Sie zur Supervision?
Ich mache jetzt keine Supervision oder Therapie. Ich glaube, ich gehe damit um wie jeder Arzt, jede Ärztin. Man weiß, worauf man sich einlässt, man fühlt auch mit in dem Moment und muss dann das für sich verarbeiten. Das bringt diese Art von Berichterstattung mit sich.

Sie sind Wira sehr nahe gekommen. Wie schafft man durch diesen langen, intensiven Kontakt eine gewisse professionelle Nähe?
Ich habe mit Wanja und seiner Mutter Marina bis heute eine enge Beziehung. Wanja hat unglaubliche Fortschritte gemacht, er kann jetzt wieder die ersten Schritte auf der Krücke tun, er kommt in diesen Tagen aus der Reha. Er war also fast seit einem Jahr entweder im Krankenhaus oder in der Reha. Dennoch hat seine Geschichte, den Umständen entsprechend, ein gutes Ende genommen.

Was mich betrifft, kann ich damit umgehen, ich kann auch meine Grenzen ziehen. Aber wie gesagt, diese Frage müsste man auch jedem Sanitäter, Pfleger, jeder Ärztin in jedem Krankenhaus stellen. Ich drehe gerade für ein anderes Projekt wieder in verschiedenen Krankenhäusern in Berlin. Wenn Sie miterleben, was in jeder Intensivstation in jeder Notaufnahme tagtäglich passiert, dann ist das auch wirklich sehr, sehr hart. Wir haben ein ganzes Segment in unserer Gesellschaft, die sich dem jeden Tag aussetzen müssen und die damit umgehen müssen. Nach ihnen fragt kaum jemand.

Wie hält man bei einem solchen Projekt Distanz?
Die Frage der Distanz bei dieser Art von Dokumentarfilm ist natürlich schwierig. Ich habe 2021 den Hans-Joachim-Friedrich-Preis bekommen mit dem berühmten Zitat, dass man sich mit einer Sache nicht gemein machen soll. Aber es gibt noch ein anderes Zitat, von Robert Capa: ‚if your pictures aren't good enough, you aren’t close enough‘. Und mit ‚close‘, glaube ich, meinte er nicht, dass die räumliche Distanz zu groß ist, sondern dass man emotional zu weit entfernt ist. Man muss also, wenn man solche Filme macht, auch vom Gefühl her nah dran sein. Wenn ich jetzt einen kritischen Film drehen würde, wo ich investigativ arbeite, dann kann ich natürlich diese Nähe nicht zulassen, dann brauche ich diese Distanz. Aber für solche Filme halte ich es mit Robert Capa.

Gleichzeitig habe ich mich natürlich Wira Schritt für Schritt genähert, über ihre Patientinnen und Patienten und so habe ich die Person Wira kennengelernt und so sind wir uns auch immer näher gekommen. Sie hat mich auch eingeladen, ihr Privatleben zu begleiten. Und dann hat man natürlich eine gewisse Nähe, die ich auch gar nicht verbergen will. Aber es sind auch Szenen im Film, die sie in Momenten der Schwäche zeigt, wo sie auch die Geduld verliert, zum Beispiel mit ihrem ältesten Sohn, als er schlechte Noten nach Hause brachte. Das ist letztendlich auch eine lustige Szene, aber das hat ihr auch nicht hundertprozentig gefallen, weil sie gesagt hat, ja, aber so sollte man mit seinen Kindern nicht reden. Und dann habe ich gesagt: ‚ja, Wira, aber das bist auch Du und ich glaube, die Szene zeigt, dass du auch ein bisschen die Geduld verlierst, weil du einfach so viel um die Ohren hast und weil die Situation so schwierig ist‘.

Also es ist nicht undifferenziert, aber ich glaube, diese Nähe ist unvermeidlich und auch notwendig, wenn man eine Geschichte auf diese Art und Weise erzählen will. Wira und ich sind uns natürlich sehr nahe gekommen und wir würden uns auch als Freunde bezeichnen. Ich fahre jetzt wieder zurück in die Ukraine und wir werden uns auch treffen. Wira war auch hier bei der Premiere im Filmtheater am Friedrichshain und das war ein sehr schöner Abend, vor allem für sie, weil sie stolz ist auf dem Film. „Du hast einfach gezeigt, was mit mir das Jahr über passiert ist“, hat sie zu mir gesagt. Die Menschen kamen nach der Vorführung zu ihr und haben sich bedankt. Das hat sie unglaublich gefreut.

Unsere Distanz wird sicherlich wieder größer werden, aber wenn man solche Filme macht, dann ist es wie eine Familie, die immer größer wird und das hat etwas sehr Schönes. Das hat auch eine Verantwortung, glaube ich, weil man die Kontakte nicht einfach von heute auf morgen abbrechen kann und will. Dafür hat man viel zu viel gemeinsam erlebt. Und deswegen wird es auch ein Stück weit Teil von einem selbst, manchmal eine traurige, melancholische Erinnerung, manchmal eine schöne Erinnerung und das ist das eigentlich Berührende, wenn man solche Filme macht.

Ist eine Fortsetzung in Planung?
Eine Fortsetzung ist im Moment nicht geplant, aber wer weiß? Wira als Person, als Charakter und die Umstände, in denen sie jetzt lebt, bieten natürlich Raum für eine Fortsetzung. Vielleicht, vielleicht auch nicht, das kann ich im Moment nicht sagen.

Danke für Ihre Zeit!

«Ukraine – Kriegstagebuch einer Kinderärztin» ist am Mittwoch, den 22. Februar, um 22.45 Uhr im rbb Fernsehen zu sehen.

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