Wenn digitale Reize plötzlich wegfallen, entsteht zunächst oft eine gewisse Unruhe – eine Art „Entzugserscheinung“. Unser Gehirn ist es gewohnt, ständig mit neuen Informationen gefüttert zu werden und hat sich an die Dopaminzufuhr gewöhnt. Besonders bei Kindern und Jugendlichen, die mit digitalen Medien aufgewachsen sind, kann das zu Gereiztheit oder Langeweile führen, aber auch die meisten Erwachsenen leiden unter dem Entzug. Psychologisch gesehen ist das aber ein sehr wertvoller Zustand: Es entsteht Raum für Selbstwahrnehmung, für den inneren Dialog, für das bewusste Erleben der Umgebung. Man merkt plötzlich, wie still es ist, wie sehr man in Automatismen gelebt hat. Und genau in dieser Leere liegt die Chance, wieder Zugang zu echten Bedürfnissen zu finden – nach Ruhe, Verbindung, kreativer Entfaltung und echter Inspiration.
Welche Chancen sehen Sie darin, als Familie im Urlaub komplett „offline“ zu sein? Fördert das Nähe oder führt es eher zu Konflikten?
Wenn die Ablenkungen wegfallen, kommen oft Themen auf den Tisch, die im Alltag unterdrückt oder übertönt wurden. Durch das Beschäftigungs-Loch können Langeweile und Gereiztheit entstehen. Um Überforderung zu vermeiden, empfehle ich deswegen keinen kompletten Ausstieg, sondern geregelte Zeiten, in denen man Online geht. Selbst das kann anstrengend sein, birgt aber auch großes Entwicklungspotenzial. Ganz wichtig ist es hierbei, Perfektionsansprüche fallen zu lassen und die Frustration, die sich - zumindest kurzfristig-einstellen kann, einfach mal in Kauf zu nehmen. Nähe entsteht nicht dadurch, dass alles konfliktfrei verläuft, sondern indem man sich authentisch begegnet. Offline-Zeiten schaffen den Raum dafür. Plötzlich ist wieder Zeit, einander wirklich zuzuhören, gemeinsam etwas zu unternehmen, sich beim Spielen, Wandern oder Kochen neu zu entdecken. Konflikte, die dabei entstehen, können – wenn sie konstruktiv ausgetragen werden – sogar zur Stärkung der Beziehung beitragen.
Viele Hotels oder Ferienunterkünfte haben meist nur einen Fernseher. Wer sollte in der Familie das Programm bestimmen?
Solche Situationen sind wunderbare Mikro-Übungsfelder für ein demokratisches Miteinander. Statt dass die Eltern einfach bestimmen oder sich die Lautesten durchsetzen, kann man gemeinsam aushandeln, wie man damit umgeht. Vielleicht darf jedes Familienmitglied an einem Abend auswählen – oder man einigt sich auf ein Programm, das allen einigermaßen gefällt. Dabei geht es weniger um den Inhalt des Fernsehprogramms als um die Haltung: Werden alle gehört? Gibt es faire Regeln? Kann man auch mal zurückstecken? Das stärkt nicht nur den Familienzusammenhalt, sondern vermittelt Kindern ganz praktisch, wie soziale Aushandlung funktioniert.
Wie können Eltern sich und ihre Kinder auf diese technikfreie Zeit vorbereiten, damit es nicht zu Frust oder Langeweile kommt?
Eine gute Vorbereitung hilft, den Übergang sanft zu gestalten. Eltern können mit ihren Kindern vorab besprechen, was auf sie zukommt, und gemeinsam Alternativen überlegen: Welche Spiele nehmen wir mit? Welche Bücher? Was möchten wir unternehmen? Gleichzeitig sollten Eltern keine Angst vor Langeweile haben – im Gegenteil: Sie ist der Nährboden für Kreativität und Eigenaktivität. Wichtig ist, Kindern nicht sofort eine Lösung anzubieten, wenn sie sagen: „Mir ist langweilig.“ Stattdessen kann man sie ermutigen: „Schau mal, was du selbst entdecken oder machen möchtest.“ So lernen sie, sich selbst zu regulieren – eine zentrale Fähigkeit fürs Leben.
Gerade wenn man auf engem Raum lebt – etwa in einem Camper oder einer Berghütte – entstehen Spannungen oft schneller. Wie lässt sich mit diesen Spannungen konstruktiv umgehen?
Spannungen auf engem Raum sind ganz normal. Niemand ist 24/7 gut gelaunt und harmonisch. Entscheidend ist der Umgang damit. Es hilft, Spannungen frühzeitig anzusprechen, bevor sie sich hochschaukeln. Hier ist die Konfliktfähigkeit der Familie, vor allem der Eltern, als Vorbilder, gefragt: Wenn man seine Bedürfnisse nämlich zu lang unter den Teppich kehrt, kann man zur tickenden Zeitbombe werden. Ich rate deswegen immer: Sprich deine Bedürfnisse an, solange du es noch freundlich formulieren kannst. Je eher ich etwas nett sage, desto weniger Frust staut sich auf und die anderen haben eine Chance es richtig zu machen. Dabei kann man Ich-Botschaften verwenden: Ich merke, ich werde etwas gereizt und gehe jetzt mal eine Stunde spazieren. Urlaub heißt nicht, dass alles perfekt läuft – sondern dass man als Familie gemeinsam unterwegs ist, mit allem, was dazugehört.
Welche Rolle spielt dabei das Bedürfnis nach Rückzug und „me time“ – und wie lässt sich das im Urlaub ohne private Rückzugsräume überhaupt realisieren?
Gerade Eltern – und auch introvertierte Kinder – brauchen im Urlaub Phasen des Rückzugs. In der Alltagshektik wird dieses Bedürfnis oft unterdrückt, im Urlaub meldet es sich umso stärker. Auch wenn kein eigener Raum zur Verfügung steht, kann man über Rückzugszeiten sprechen: „Ich gehe jetzt eine Runde spazieren“ oder „Ich lege mich für 20 Minuten aufs Bett, bitte nicht stören.“ Solche kleinen Inseln sind enorm wichtig, um die eigenen Akkus aufzuladen. Sie sind keine egoistische Abgrenzung, sondern ein Zeichen von Selbstfürsorge – und ein gutes Vorbild für die Kinder.
Viele Eltern fühlen sich verantwortlich, ihre Kinder dauerhaft zu unterhalten. Wie können sie lernen, diese Verantwortung auch mal loszulassen – gerade in einem medienfreien Urlaub?
Das ist absolut nicht nötig. Dieser Drang entsteht bei Eltern oft aus Schuldgefühlen, weil sie im Alltag nicht so viel Zeit für ihre Kinder haben. Kinder brauchen nicht rund um die Uhr Programm, sondern Räume, in denen sie sich selbst entfalten und ihre Kreativität gefordert ist. Das bedeutet auch, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse ernst nehmen dürfen: Es ist okay, einfach mal dazusitzen und nichts zu tun und die Kinder mal sich selbst zu überlassen. Wenn Eltern entspannter sind, überträgt sich das auf die Kinder. Eine gute Frage lautet: „Was traue ich meinem Kind eigentlich zu?“ Kinder, die die Erfahrung machen, selbst auf Ideen zu kommen, wachsen in ihrer Selbstwirksamkeit. Das ist viel wertvoller als ständige Animation von außen.
Können Sie konkrete Rituale oder Spiele empfehlen, die helfen, als Familie miteinander in echten Kontakt zu treten?
Kleine Abendrituale wie „Was war heute schön, was war schwierig?“ stärken den emotionalen Austausch. Auch sogenannte Wertschätzungsrunden, bei denen jedes Familienmitglied etwas Positives über die anderen sagt, schaffen Nähe und Vertrauen. Klassiker wie „Stadt, Land, Fluss“, „Ich sehe was, was du nicht siehst“ oder kreative Gemeinschaftsaufgaben wie ein Urlaubs-Fototagebuch wirken verbindend. Wichtig ist, dass der Fokus auf dem gemeinsamen Erleben liegt – nicht auf Perfektion. Diese Momente schaffen Bindung – nicht durch große Worte, sondern durch kleine, gelebte Gesten.
Gibt es psychologische Vorteile, wenn Kinder im Urlaub erleben, dass sie sich selbst beschäftigen und aushalten können, ohne digitale Reize?
Ja, und die sind erheblich. Wenn Kinder lernen, ihre Zeit selbst zu gestalten, sich zu beschäftigen oder auch einfach mal Langeweile auszuhalten, entwickeln sie ein gesundes Selbstbewusstsein und mehr Frustrationstoleranz. Sie merken: Ich brauche kein Entertainment, um mich wohlzufühlen. Ich bin selbst kreativ, selbstwirksam, kompetent. Diese Erfahrungen sind im digitalen Alltag selten geworden – und genau deshalb im Urlaub so wertvoll. Kinder, die das erleben dürfen, entwickeln ein inneres Gleichgewicht, das sie langfristig unabhängiger macht von äußeren Reizen.
Wie wichtig ist es, im Vorfeld mit der Familie zu klären, was alle vom Urlaub erwarten – und wie kann man dabei realistische, gemeinsame Ziele formulieren?
Das ist ein oft unterschätzter Punkt. Wenn jedes Familienmitglied unterschiedliche Erwartungen mitbringt – die oft unausgesprochen bleiben – sind Enttäuschungen programmiert. Ein gemeinsames Gespräch vor der Reise, in dem jeder äußern darf, was ihm wichtig ist, schafft Klarheit und vermeidet Missverständnisse. Man kann zum Beispiel gemeinsam überlegen: Was braucht jeder, damit der Urlaub schön wird? Was ist realistisch? So entsteht ein Teamgefühl, ein Gefühl von „Wir gestalten unseren Urlaub gemeinsam“. Das senkt die Erwartungen an Perfektion – und erhöht die Zufriedenheit.
Und zum Schluss: Was würden Sie Familien raten, die nach dem Urlaub wieder zurück in den digitalen Alltag finden – ohne direkt in alte Muster zu verfallen?
Es ist hilfreich, sich schon im Urlaub zu überlegen, welche Offline-Rituale man in den Alltag retten möchte. Vielleicht ein medienfreier Sonntagvormittag, gemeinsame Abendessen ohne Smartphone oder regelmäßige „Bildschirmpausen“ für die ganze Familie. Der Schlüssel ist Bewusstheit. Es geht nicht darum, digitale Medien zu verteufeln, sondern darum, wieder selbst zu entscheiden, wann und wie man sie nutzt – statt sich von ihnen bestimmen zu lassen. Wer erlebt hat, wie viel entspannter und echter Offline-Zeit sein kann, wird vermutlich ganz automatisch den Wunsch haben, davon ein Stück im Alltag zu bewahren.
Vielen Dank für das Gespräch!
„Der Urlaub ist eine gute Gelegenheit, wieder zu spüren, worauf es im Leben wirklich ankommt – nicht WLAN, sondern Verbindung. Und die entsteht nicht durch Netz, sondern durch Nähe.“
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