Die Kritiker

«Tatort: Azra»: Spannung auf hohem Niveau

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Der Bruder eines georgischen Mafiabosses wird mitten in Wien erschossen. Hinterrücks. Und es gibt keine Spur. Für die Wiener Polizei ist dies eine Katastrophe, denn sie ist an diesem Clan seit Jahren dran. Allerdings ist da Azra, die Türsteherin eines Clubs, die nicht das ist, was sie vorgibt zu sein.

Stab

Österreich 2022
BESETZUNG: Harald Krassnitzer, Adele Neuhauser, Mariam Hage, Lasha Bakradze, Mariam Avaliani, Vladimir Korneev, Zeynep Buyraç, Jevgenij Sitochin
REGIE: Dominik Hartl
DREHBUCH: Sarah Wassermair
KAMERA: Ioan Gavriel
SZENENBILD: Katrin Huber, Gerhard Dohr
MUSIK: Paul Gallister
Um es kurz zu machen: «Azra» ist eine kleine Perle des Spannungskinos. Der Film ist nicht perfekt, dies ist immer noch ein österreichischer «Tatort», der mit einem «Tatort»-Budget seine Geschichte zu erzählen hat. Da sind keine größeren Sprünge möglich. Doch innerhalb des zur Verfügung stehenden Produktionsrahmens holt Regisseur Dominik Hartl alles aus der Geschichte heraus, was er herausholen kann. Das ist spannend, das ist geradlinig und es ist vor allem sehr überraschend.

Moritz Eisner und Major Bibi Fellner haben also eine Leiche. Für einen «Tatort» keine ungewöhnliche Ausgangssituation. Der Mann aber, der da erschossen neben seinem Fahrzeug liegt, ist Luka Datviani, der Bruder von Beka Datviani, dem Paten der georgischen Mafia in Wien. Der scheint, so gefasst er auch auftreten mag, vom Tod seines Bruders tatsächlich mitgenommen zu sein und sagt der Polizei vollumfängliche Hilfe zu. Allerdings vergeht eine Woche und es gibt nicht eine einzige Spur. Natürlich hat Beka Feinde. Mehr als genug. Aber es gibt keine Hinweise auf eine aktuelle Eskalation, die in einem Mord enden „musste“. Der einzige Verdacht richtet sich im Grunde gegen Beka selbst. Der hatte einige Differenzen mit seinem Bruder bezüglich der Ausrichtung des Clans. Beka hat beste Verbindungen in die Politik und nicht zuletzt zum österreichischen Bauwesen. Er mag ein Drecksack sein, er beherrscht aber den professionellen Auftritt. Sein Bruder war eher „traditionell“, kein im Schatten agierender Businessman. Aber ein Motiv für einen Mord am eigenen Bruder lässt sich beim besten Willen nicht erkennen.

Eine Frage steht im Raum. Woher weiß das Wirtschaftsdezernat vom Bruderzwist? Die Antwort ist simpel: Das Wirtschaftsdezernat hat einen Maulwurf bei den Datvianis eingeschleust, von dem Moritz und Bibi gerade erfahren dürfen, dass es ihn gibt. Das Wirtschaftsdezernat hält sich ansonsten bedeckt. Moritz jedoch weiß, wen man eingeschleust hat. Er hat Azra gesehen, eine Türsteherin des Clubs, in dessen Nähe Luka ermordet worden ist. Azra ist keine Polizistin. Ihre Eltern waren Junkies und sind gestorben, ihr Bruder, der sich um sie liebevoll gekümmert hat, hat sich den Goldenen Schuss gesetzt. Danach ist auch Azra in die Drogenszene geraten. Doch Moritz hat Potenzial in ihr gesehen und seinerseits geholfen – und nun nutzt die junge Frau ihre Erfahrungen, um sich in einem Umfeld zu bewegen, in dem jeder Polizist sofort auffliegen würde. Azra ist die V-Frau und sie hat eine Idee, wie ihr ihre Kollegen helfen können, innerhalb des Clans aufzusteigen. Beka bewegt sich grundsätzlich nur mit Leibwächtern aus dem Haus und er beschützt seine Tochter Tinatin, wo immer er kann. Tinatin ist seine rechte Hand, sie ist intelligent, gebildet, skrupellos. Daher gibt er ihr den Vorzug vor seinem Sohn Irakli, der zwar ein Großmaul ist, aber kaum die Befähigung besitzt, in die Fußstapfen des Vaters treten zu können. Die Leibwächter sind Bekas Archillesverse. Er braucht sie, also muss man sie aus dem Weg schaffen. Durch Haftbefehle, die noch offen sind, Verhöre, was immer der Polizei einfällt. Beka braucht Leute, denen er vertrauen kann und Azra gilt als unverdächtig. Außerdem heißt es nicht umsonst: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, also wird in Bekas Umfeld etwas aufgeräumt; so fällt Azra tatsächlich die Karriereleiter hinauf und ist nun Tinatin sehr nahe.

An dieser Stelle soll die Inhaltsangabe abrupt abgebrochen werden, denn was nun geschieht – damit ist nicht zu rechnen. «Azra» nimmt schlichtweg eine vollkommen überraschende Wendung, die die gesamte Geschichte in eine ganz andere Richtung führt. Ist «Azra» bis zu diesem Punkt der Inszenierung ein solider inszenierter Kriminalfilm, drückt er unerwartet auf das Spannungspedal und gibt ordentlich Gas - und das ohne Action, Krawall oder sonstiges Bohei. Kamera, Musik, Montage erzeugen vielmehr Tempo durch ihr perfekt choreografiertes Zusammenspiel. Der Faktor Zeit rückt in den Mittelpunkt des Geschehens. Obendrein wird diese Wendung nicht die einzige bleiben. Aber auch für diese gilt: keine Spoiler!

«Azra» ist der Beleg dafür, dass es möglich ist, auch mit einem «Tatort»-Budget ordentlich Spannung zu erzeugen. Vor allem dann, wenn ein Drehbuch vorliegt, das einzig der Spannung verpflichtet ist. Abgesehen von einigen Spitzfindigkeiten gegen die österreichische Politik (man versucht, Beka über Finanzvergehen in die Bredouille zu bringen, „als hätten Finanzvergehen in Österreich jemals jemanden interessiert“, wie Eisner konstatiert), bleibt die Story von Ingredienzien wie dem sozial-relevanten Thema der Woche weitestgehend verschont. Vielleicht braucht eine in die Jahre gekommene Reihe wie der «Tatort» einfach mal frische Gesichter hinter der Kamera wie Dominik Hartl, ein Regisseur, der keine Angst hat, „nur“ unterhalten zu wollen. Eine Wendung hier, eine Überraschung da. Gewürzt durch eine agile Kamera und eine ziemlich coole musikalische Untermalung. Hartl, der 2016 mit «Angriff der Lederhosenzombies» eine durchaus bizarre Liebe zu Genrefilmen ohne Gedöns bewies, ist auf jeden Fall ein «Tatort»-Debütant, der Lust auf weitere Filme macht. Dass «Azra» keinesfalls ein kühler Thriller ist, sondern ein Film, der keine Angst vor Emotionen hat, rundet das positive Gesamtbild ab.

Pfingstmontag, 29. Mai 2023, 20.15 Uhr, Das Erste

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