Interview

«Y-Kollektiv»-Redaktion: ‚Wir sind organisch gewachsen‘

von

Die von Radio Bremen verantwortete Funk-Reihe hat seit Sendestart ein paar beindruckte Filme wie die Rap Charts hervor gebracht. Quotenmeter sprach mit den Verantwortlichen Marcello Bonventre, Helge Haas und Lea Semen.

Die Gesprächspartner

  • Marcello Bonventre Leiter «Digitale Garage» bei Radio Bremen. Dort werden u.a. das «Y-Kollektiv» und das Sport-Satireformat «Wumms» verantwortet.
  • Helge Haas ist Leiter Pop & Digital bei Radio Bremen. Zu diesem Programmbereich gehören neben der Digitalen Garage auch die Abteilung Digitale Strategie sowie die Programme Bremen NEXT und Bremen Vier.
  • Lea Semen Redaktionsleiterin «Y-Kollektiv» bei Sendefähig
Seit über fünf Jahren gibt es «Y-Kollektiv» schon bei Funk. Wurden eure Reportagen zunächst im Hause Radio Bremen belächelt?
Helge Haas: Nein, es gab von Anfang an Unterstützung bis rauf zum Intendanten. Trotzdem wussten wir nicht, wie wir mit Journalismus gegen Katzenvideos bestehen würden. Da gab es schon Skeptiker, aber die konnten wir ja dann relativ schnell überzeugen.



Obwohl Ihr „nur“ eine kleine Anstalt der ARD seid, sorgt ihr für Aufmerksamkeit. Viele Videos haben beispielsweise mehr Aufrufe als das ProSieben-Magazin «Zervakis und Opdenhövel. Live». Wie kommt dieser Erfolg?
Marcello Bonventre:
Ich unterstelle jetzt einfach mal was: Das, was andere, vielleicht größere Anstalten anstreben, gibt es bei uns längst: kurze Wege, flache Hierarchien und viel Vertrauen und kollegialen Rückenwind bei Radio Bremen. Außerdem sind wir hier oben im Norden ziemlich wetterfest und lassen uns von Gegenwind nicht beirren. Wir können uns dadurch sehr gut auf die eigentlichen Inhalte und die Autorinnen und Autoren konzentrieren, Beitrags-Ideen fix umsetzen und auch schnell gegensteuern, wenn etwas mal nicht so läuft wie geplant. Ein ganz wichtiger Faktor ist zudem, dass das Team zwar jung ist, aber nicht unerfahren. Wir haben schon vor dem Start des «Y-Kollektivs» in der digitalen Garage von Radio Bremen zusammen gearbeitet und gemeinsam Erfahrungen mit digitalen journalistischen Formaten sammeln dürfen. Das zahlt sich jetzt aus.

Vielleicht nutzen wir auch deshalb die Plattformen wie soziale Netzwerke, und nicht nur wie reine Video-Abspielstationen a la Film hochladen, fertig – jede Reportage ist ein Debattenbeitrag, und in den Kommentarspalten wird stets munter weiter diskutiert, gemeinsam mit den Autorinnen und Autoren. Wir nehmen das Community Management sehr ernst und es hat bei uns einen sehr hohen Stellenwert. Letztendlich ist es diese Community, dank derer wir so stark wachsen konnten und die uns nach wie vor mit so viel Rückenwind versorgt. Dafür sind wir wirklich dankbar!

«Y-Kollektiv» hat bei YouTube fast eine Million Abonnenten. Betreibt das Radio Bremen für euch eigentlich Außenwerbung?
Helge Haas: Wir sind organisch gewachsen - große Werbekampagnen mit bundesweiten Citylight-Plakaten können wir uns gar nicht leisten. Wir haben aber als Teil des funk-Netzwerks immer die Möglichkeit, innerhalb der verschiedenen Formate und Kanäle aufeinander zu verweisen. Das haben wir von Anfang an genutzt und können mittlerweile mit unserer großen Reichweite wiederum neue, kleine Kanäle unterstützen. Damit können wir ein bisschen was von dem zurückgeben, was wir in den ersten Jahren aus der funk-Zentrale an Unterstützung erfahren haben.

Eine eurer bekanntesten Reportagen war unter anderem die Doku, wie man sich in die Charts hacken kann. Welche Entwicklungen gab es im Anschluss aus der Branche?
Lea Semen: Auf unsere Reportage "Der Rap Hack" gab es große Reaktionen aus der Musikbranche. Nach der Recherche haben Labels, Musikerinnen, Musiker und Streamanbieter reagiert und nachgesteuert. Da wir in unserem Format auch auf Missstände aufmerksam machen wollen, freut es uns besonders, wenn Reportagen wie die über Spotify, den rechten Skandal bei der Eliteeinheit KSK, die Exposer-Szene, wo Fotos ungefragt auf Pornoseiten landen, oder Missbrauch auf Luxusyachten, zu Reaktionen führen. Obwohl unsere Reportagen ein junges Millionenpublikum erreichen, sind wir besonders stolz auf die Themen, bei denen wir Vorreiter sind, neue Trends entdecken und uns für unsere junge Zielgruppe gerade machen und deren Themen Gehör verschaffen.

Bei der Reportage über „Pr0gramm“ konnte man zeitweise Gewaltvideos anschauen. Die Macher werfen euch vor, dass ihr falsche Tatsachen behauptet hat. Gab es hier einen konstruktiven Austausch?
Lea Semen:
Wir suchen immer den konstruktiven Austausch: in den Kommentaren, in einem Q&A auf unserem Zweitkanal Y-zwei und bei regelmäßigen Inside Y-Veranstaltungen. Wir reagieren auf Kritik und gehen offen mit Fehlern um. Bei dieser Reportage gab es schon Tage vor der Veröffentlichung einen Shitstorm gegen uns, da war der Film noch gar nicht fertig geschnitten. Wenn Hater anschlagen, heißt das, dass man einen wunden Punkt getroffen hat. Wir sehen so etwas mittlerweile auch als Lob.

Marcello Bonventre: Besser geht doch immer – daher sind wir jederzeit an einem konstruktiven Austausch und an konstruktiver Kritik durch die Community interessiert. Dieser Austausch funktioniert beim «Y-Kollektiv» wirklich gut. Frauenverachtende, gewaltverherrlichende, diskriminierende Kommentare und Reaktionen haben allerdings nichts mit konstruktiver Kritik und Debatte zu tun und bringen niemanden weiter, sondern vergiften nur die Kommentarspalten. Glücklicherweise haben wir eine tolle Community, die den Hatern oft genug zeigt, wie Debatte und Diskussion besser geht.

Bei «Y-Kollektiv» haben die Ausgaben keine feste Sendungslänge. Müsste sich die ARD so etwas auch mehr im linearen Programm trauen?
Helge Haas: Lineare Formate hängen ja immer an einem festen Sendeschema - das wird vom Publikum erwartet und hat auch was mit Verlässlichkeit zu tun. Die «Tagesschau» startet pünktlich um 20.00 Uhr, die «Tagesthemen» meistens um 22.15 Uhr, wobei man da schon sieht, dass variable Zeiten im linearen nicht optimal sind. Ganz anders sieht es in der Mediathek aus - da ist es völlig egal, wie lang die einzelnen Folgen einer Serie sind. Wir sind ja gerade dabei, vermehrt Formate für die Mediathek zu entwickeln - dort machen variable Längen viel Sinn. Aber es geht ja nicht nur um die variable Länge - ein Beitrag auf einer Streaming-Plattform muss dramaturgisch ganz anders aufgebaut sein als im linearen. Es gibt dort keinen Audience Flow, niemand "zappt rein" in eine laufende Sendung. Deshalb muss und kann man anders erzählen.

Ihr beschäftigt euch neben Gewaltvideos mit Sex auf Drogen, Tablettenabhängigkeit oder Drogensucht allgemein. Wie geht man nach derartigen Produktionen mit diesen Themen um?
Lea Semen:
Nach jeder Produktion machen wir eine Nachbesprechung, fragen in unserem Team nach, wie es jedem und jeder mit den Kommentaren geht, denn nicht nur unsere Themen und Perspektiven sind intensiv, sondern auch der Austausch mit der Community. In unserem Team gibt es einen sehr ehrlichen und sensiblen Umgang miteinander, den wir für unverzichtbar halten bei solchen extremen Recherchen. Zudem gibt es von funk das Angebot einer psychologischen Betreuung, welches von unseren Autorinnen und Autoren auch gerne genutzt wird.

Haben die Reportagen eigentlich auch die Chance, ins Fernsehen zu gelangen?
Helge Haas: Wir haben mit «Rabiat» ja vor drei Jahren damit begonnen, das «Y-Kollektiv» auf die Fernsehwelt loszulassen. Das hat sich inzwischen so gut etabliert, dass wir auch im kommenden Jahr neue «Rabiat»-Folgen produzieren werden. Die laufen dann zwar auch im Fernsehen, den Schwerpunkt legen wir aber inzwischen auf die ARD Mediathek! Dort sehen wir langfristig für genau solche Reportagen die Zukunft, denn als Streamingangebot finden die Themen ihr Publikum besser als bei der linearen Ausstrahlung. Der Schwerpunkt Mediathek wirkt sich dann wiederum auf die Dramaturgie und den Rhythmus der Veröffentlichungen aus - während im Fernsehen die Folgen einer Staffel im Wochenabstand laufen, veröffentlichen wir sie in der Mediathek en bloc.

Ihr wählt gerne das Stilmittel, dass man die Fahrt zu eurem nächsten Dreh filmt, die Kamera wackelt und manchmal wirkt es, als würden die Videos mit dem Smartphone aufgenommen werden. Unterstreicht dies eine junge Herangehensweise?
Lea Semen:
Es wirkt nicht nur so, als würden die Videos mit dem Smartphone aufgenommen werden, manche Videos sind komplett mit dem Smartphone gedreht. Die Technik macht es möglich, also nutzen wir sie. Das ist keine junge Herangehensweise. Jung sind unsere Perspektiven auf Themen, Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner, und dass wir öffentliche-rechtliche Werte haben, aber andere Tabus.

Gibt es bei Radio Bremen eigentlich auch Analysen der Videos? Werden Themen ausgespart, wenn diese bei den YouTube-Zuschauern nicht ankommen?
Marcello Bonventre:
Natürlich analysieren wir jede unserer Reportagen im Nachgang. Das gehört definitiv dazu. Was hat gut funktioniert, was nicht, wo hätten wir besser erklären müssen, welchen Aspekt hätten wir mehr oder welchen weniger betonen müssen. Wir wissen, dass wir vieles schon richtig machen, aber wir wissen auch, dass es immer noch Luft nach oben gibt.

Wenn Reportagen besonders gut laufen, und/oder in den Kommentaren besonders gefeiert werden, freut uns das natürlich sehr. Aber das ist nicht allein das Ausschlaggebende. Uns ist grundsätzlich wichtig, dass die journalistische und die erzählerische Qualität stimmen und dass die Reportage relevante Fragen stellt: sei es für eine einzelne Person, für einzelne Gruppen oder für uns als Zivilgesellschaft. Wir haben beispielsweise die Erfahrung gemacht, dass Auslandsthemen in unserem Kanal oft nicht so gut geklickt werden.

Trotzdem wird es bei uns auch weiterhin ausgezeichnete und wichtige Reportagen geben, die sich mit dem Schicksal der Rohingyas in Myanmar, Flüchtlingen auf Lesbos oder mit Kinderarbeit in Pakistan beschäftigen. Das sehen wir als Teil unseres öffentlich-rechtlichen Auftrags. Und auch wenn es da dann und wann nicht so viele Klicks geben sollte, bestärken uns die Kommentare unter diesen Videos in den allermeisten Fällen darin, auch weiterhin über solche Themen zu berichten.

Vielen Dank!

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