Interview

Kirsten Esch: Das Baltikum war der „Hauptkriegsschauplatz“

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Die Dokumentarfilmerin wollte wissen, warum die meisten Opfer unter der Zivilbevölkerung vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer starben.

Frau Esch, Ihre Dokumentation «Osteuropa zwischen Hitler und Stalin – Das große Sterben» behandelt eine der gewaltvollsten Epochen in der Geschichte Osteuropas. Was war für Sie der Auslöser, sich diesem Thema filmisch zu nähern?
Ich wusste zwar vieles über die Gräuel des Zweiten Weltkriegs, aber mir war nicht klar, dass dieser Krieg in den sogenannten „Borderlands“ – so bezeichnet der Genozidforscher Omer Bartov die riesige Region vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer - der Hauptkriegsschauplatz war, mit den meisten Opfern unter der Zivilbevölkerung. Das hat mich überrascht. Ich wollte wissen, wie es dazu kommen konnte.

In Ihrem Film sprechen Sie über die Expansionspläne sowohl Hitlers als auch Stalins. Welche politischen und ideologischen Ziele verfolgten die beiden Diktatoren mit der gewaltsamen Umgestaltung Osteuropas?
Hitler und Stalin verfolgten politisch unterschiedliche Ziele, beide taten das mit höchster Grausamkeit und Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Zivilbevölkerung. Stalin wollte die Sowjetunion industrialisieren und seine persönliche Macht vergrößern – was er mit Hitler teilte. Darüber hinaus teilten sie Drang nach Expansion, nach dem Besitz wichtiger Ressourcen. Dafür stand für Stalin wie Hitler die Ukraine im Zentrum der Begierde mit ihren reichen Bodenschätzen auch der „Brotkorb Europas“ genannt.

Ein zentrales Element ist der Hitler-Stalin-Pakt von 1939 – insbesondere das geheime Zusatzprotokoll. Wie sehr wurde damit der Boden für das spätere Morden bereitet?
Der Hitler-Stalin-Pakt wurde als Nicht-Angriffs-Pakt bezeichnet, war in Wahrheit aber ein Angriffs-Pakt. Der Pakt bot für beide Diktaturen Vorteile und es war auch dieser Pakt, der zum Angriff auf Polen und damit zum Zweiten Weltkrieg führte.

Sowohl der Nationalsozialismus als auch der Stalinismus setzten auf massive Propaganda. Welche Rolle spielte diese ideologische Aufladung für die Rechtfertigung der Gewalt gegen Zivilisten?
Die Propaganda ist immer ein wichtiges Mittel von Diktaturen, um die Stimmung der Bevölkerung in die gewünschte Richtung zu lenken. Sie soll den Feind diskreditieren – und im Falle von Hitler und Stalin die Zivilbevölkerung glauben machen, dass es unter ihrer jeweiligen Herrschaft für sie besser würde. Das eigentliche Ziel war es, die Zivilbevölkerung als willige Kollaborateure oder Arbeitskraft für die eigenen Ziele zu gewinnen. Das einzelne Menschenleben zählte nichts.

Nirgendwo sonst im Zweiten Weltkrieg starben so viele Zivilisten wie in Osteuropa. Was unterscheidet die Gewalt dort von anderen Kriegsschauplätzen?
Im Nationalsozialismus war die Vorstellung von der vermeintlich „minderwertigen slawischen Rasse“ tief verwurzelt. Das führte zu einem Ausmaß von Brutalität in Osteuropa, das mich während meiner Arbeit an diesem Film und darüber hinaus erschüttert hat. Die meisten Männer dieser osteuropäischen, besetzten Gebiete kämpften, als die Deutschen in die Länder einmarschierten bereits mit der Roten Armee. Vor Ort waren fast nur Alte, Frauen und Kinder zugegen. Sie wurden mit mörderischer Gleichgültigkeit mit brutalsten Methoden und immer wieder im perfiden Zusammenspiel von deutschen Soldaten, Wehrmacht und SS ermordet. In Osteuropa waren die traditionell größten jüdischen Gemeinden ansässig. Nach dem Zweiten Weltkrieg war vom Judentum Osteuropas kaum mehr etwas übrig.

Die jüdische Kultur in Osteuropa wurde nahezu ausgelöscht. Welche Einblicke bietet Ihr Film in diese verlorene Welt und die Folgen ihrer Zerstörung?
Schon vor dem Einmarsch der Deutschen waren die jüdischen Bewohner zahlreichen Pogromen und Verfolgungen durch die einheimische Bevölkerung ausgesetzt. Mit dem aufkommenden Nationalismus in den Borderlands des 19. Jahrhunderts gerieten sie zwischen alle Stühle und waren nirgends erwünscht. Auch darum waren viele Juden überzeugt vom ursprünglich internationalen Konzept des Kommunismus. Sie sahen darin einen Weg, in Freiheit und Gleichwertigkeit leben zu können. Doch alles – was auch immer sie versuchten - wurde ihnen zum Verhängnis. Dann begann der Zweite Weltkrieg und die massenhafte Ermordung der Juden durch die Deutschen führte dazu, dass die jüdischen Bräuche und Stetls fast ganz von der Landkarte Osteuropas getilgt waren. Und obwohl nur wenige Juden den Holocaust der Nationalsozialisten überlebt hatten, ging auch nach dem Ende des Krieges in vielen Ländern Osteuropas die Verfolgung durch die einheimische Bevölkerung weiter.

Inwiefern zeigen Ihre Zeitzeugengespräche, wie sich diese Jahre des Schreckens in das kollektive Gedächtnis der betroffenen Gesellschaften eingebrannt haben?
Die Zeitzeugin Wanda Traczyk-Stawska, heute 97 Jahre alt, kämpfte als 17-Jährige im Warschauer Aufstand gegen die Deutschen und erlebte das ganze Ausmaß ihrer Brutalität. Dennoch setzt sie sich heute für Versöhnung ein. Nie wieder Krieg, das ist ihre Mission.

Historiker sprechen mitunter davon, dass Stalins Terror den deutschen Besatzern den Boden bereitet habe. Wie beurteilen Sie dieses Zusammenspiel der Gewaltregime?
Ein Beispiel für das Zusammenspiel der beiden Gewaltregime ist die Politik des Hungers. Stalin verursachte auch in der Ukraine Anfang der 1930ger Jahre eine gigantische Hungersnot – bis heute ein Trauma im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer. Während der Hungersnot war es den Menschen nicht erlaubt ihre Angehörigen zu betrauern oder öffentlich darüber zu sprechen. Das wird ihnen unter der deutschen Besatzung erlaubt – die deutsche Propaganda befeuert die Erinnerung daran sogar. Die Bevölkerung glaubt, auch aus diesem Grund anfangs, dass unter der nationalsozialistischen Besatzung alles nur besser werden kann als unter Stalin. Insofern hat Stalins Terror und Hunger den Deutschen – unfreiwillig – den Boden bereitet. Als schließlich die Rote Armee als Befreier zum Kriegsende einmarschiert, freuen sich viele Menschen und glauben, es kann unter der sowjetischen Herrschaft nur besser werden. Tanja Penter, Professorin für Osteuropäische Geschichte in Heidelberg erzählt im Film von der Redewendung, die damals unter der Zivilbevölkerung kursierte: Was schaffte Hitler in nur einem Jahr, was Stalin in 25 Jahren nicht gelang? Antwort: Er schaffte es, dass wirklich alle begannen, die Sowjetmacht zu lieben.

Der Film stellt auch Bezüge zur Gegenwart her. Wie wirken die historischen Traumata in Ländern wie Polen, der Ukraine oder dem Baltikum bis heute nach – gerade mit Blick auf den Krieg in der Ukraine?
Die Menschen dieser Region mussten immer wieder erleben, wie ihr Recht auf staatliche Unabhängigkeit in Frage gestellt bzw. übergangen wurde. Sie haben unter Fremdherrschaft Gewalt und Leid erfahren. Die Ukraine erlebt es gerade wieder.

Was wünschen Sie sich, dass das Publikum nach dem Ansehen Ihres Films mitnimmt – besonders im Hinblick auf unsere Verantwortung im Umgang mit Geschichte?
Ich denke, die aktuellen Bezüge zu heute stellen sich beim Anschauen des Films ganz von alleine her – Krieg und Besatzung bedeutet für die Zivilbevölkerung ein Leben in Angst und Schrecken.

Die Dokumentation «Osteuropa zwischen Hitler und Stalin – Das große Sterben» ist am Dienstag, den 10. Juni um 20.15 Uhr bei arte zu sehen. Außerdem ist der Film ab Dienstag auch in der arte Mediathek.

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