Interview

Carol Schuler: ‚Das Thema ist absurd, poetisch und unheimlich zugleich‘

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Der neue «Tatort» aus der Schweiz heißt „Rapunzel“. Ermittlerin Ott ist einen Fall verwickelt, in der die Haare der Frauen eine große Rolle spielen. Aber ein Märchen ist der Film nicht geworden.

Frau Schuler, in „Rapunzel“ wird ein Kriminalfall mit einem ungewöhnlichen Motiv erzählt – dem Geschäft mit Echthaar. Wie haben Sie persönlich auf dieses Thema reagiert, als Sie das Drehbuch zum ersten Mal gelesen haben?
Ich fand das Thema überraschend – und genau deshalb spannend. Das Thema ist absurd, poetisch und unheimlich zugleich. Haare sind etwas so Persönliches und haben dennoch eine politische Dimension. Haare als Handelsware, das klingt nach Märchen, ist aber bittere Realität. Und wenn man dazu recherchiert, eröffnet sich ein ganzes Feld von Fragen: über Körper, Besitz, Schönheit und ökonomische Abhängigkeiten. Und wie so oft ist es der weibliche Körper der als Ressource genutzt wird. Es ist ein ungewöhnlicher Zugang für einen Krimi, der jedoch auf verstörende Weise viel über unsere Gegenwart erzählt.

Ihre Figur, Tessa Ott, wird einmal mehr mit einem sehr verstörenden Fall konfrontiert. Wie haben Sie sich auf die emotionalen Nuancen dieser Folge vorbereitet?
Ich versuche, nicht alles zu psychologisieren. Als Spielerin versuche ich sehr im Moment zu sein. Ich komme zwar gut vorbereitet ans Set, aber wenn ich dann dort bin geb‘ ich mir Mühe alles wieder zu vergessen. So wie Tessa bei ihren Ermittlungen, folge ich in meinem Spiel meistens meinem Bauchgefühl. Neugier und Unruhe sind da oft mein bester Motor.

Der «Tatort» „Rapunzel“ ist Ihr neunter Einsatz als Ermittlerin. Wie hat sich Ihre Figur seit dem ersten Fall entwickelt – und worin liegt für Sie die Herausforderung, Tessa Ott immer wieder neu zu erfinden?
Tessa ist klarer geworden und ist mittlerweile weniger impulsiv. Obwohl sie natürlich im Kern immer noch ein widerspenstiges Wesen hat und sich ihre moralische Kompassnadel von niemandem verdrehen lässt. Außerdem ist sie, glaube ich verletzlicher geworden, die Herausforderung ist ja bei einer solchen Serie, der Figur treu zu bleiben, aber sich nicht zu wiederholen. Ich frage mich also bei jeder Folge: Was hat Tessa aus dem letzten Fall mitgenommen – und was muss sie diesmal loslassen? Ich sehe Tessa wie eine Skulptur, die mit jedem Fall weiter gemeißelt wird – mal mit Feile, mal mit Hammer. Und manchmal mit einem völlig unerwarteten Pinselstrich.

Tessa Ott und Isabelle Grandjean sind ein eingespieltes Team. Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit Ihrer Kollegin Anna Pieri Zuercher nach so vielen gemeinsamen Drehs?
Anna ist ein Geschenk. Wir arbeiten mit- und nicht gegeneinander – was, nicht bei allen Serien-„Partnerschaften“ selbstverständlich ist. Anna und ich können inzwischen mit einem Blick ganze Dialoge führen – das ist Luxus. Wir vertrauen einander, und das lässt Raum für Unerwartetes. Für mich ist das die beste Voraussetzung, um in der Szene frei zu sein. Und wenn wir beide am Set sind, kommt auch der Spaß nicht zu kurz.

Die Kulissen – vom Uetliberg bis zur Jura-Universitätsbibliothek – prägen die Atmosphäre des Films. Wie wichtig ist Ihnen der Drehort Zürich als Teil der Erzählung?
Sehr wichtig. Zürich ist nicht nur Postkartenhintergrund, sondern hat auch viele blinde Flecken – soziale, politische, historische. Ich liebe es, wenn wir dort drehen, wo man nicht sofort hinblickt. Zürich kann auf den ersten Blick sehr sauber aussehen, aber verbirgt auch viele dreckige Ecken.

In der Folge geht es um Machtverhältnisse, Ausbeutung und stille Abgründe. Wie gelingt es Ihnen als Schauspielerin, diese gesellschaftlichen Themen glaubwürdig mit Ihrer Figur zu verknüpfen?
Ich würde sagen: Ich verknüpfe gar nicht – ich lasse mich verstricken. Als Schauspielerin geht es mir nicht nur um das Abbilden einer Realität, sondern um das Durchlässig-Werden für das, was sie mit uns macht. Ich möchte nie moralisch spielen, sondern immer emotional. Und gleichzeitig möchte ich Tessa eine Haltung geben. Wenn ich spiele, bringe ich meine eigenen Gedanken und Wahrnehmungen mit ein und die Themen, mit denen sich Tessa im Fall beschäftigt, beschäftigen dann unverweigerlich auch mich. Und vielleicht liegt genau darin die Glaubwürdigkeit: im Zulassen, dass etwas auch mich betrifft, während ich es erzähle.

Die Geschichte hat etwas Märchenhaftes, fast Symbolisches – besonders durch die „Rapunzel“-Anleihen. Was bedeutet es für Sie, wenn ein Krimi mehr ist als reine Fallaufklärung?

Ich finde es interessant, wenn man sich beim Schauen eines Krimis mehr fragt, als nur: Wer wars?
Die Geschichte von Rapunzel ist ja im Kern eine Erzählung über eine Frau, die weggesperrt wird, weil ihre Freiheit gefährlich scheint. Und genau das ist keine Märchenfantasie, sondern für viele Frauen Realität. Ich denke dabei z.B. an die mutigen Frauen im Iran, die sich aus Protest gegen die patriarchalen Strukturen in ihrem Land, die Haare abschneiden. Denn ihr Haar, ihr Körper, ihre Freiheit sind politisch.

Wenn ein Krimi neben dem Spannungsbogen noch eine zweite Ebene einzubauen, sei sie nun märchenhaft, gesellschaftskritisch oder abstrakt-symbolisch finde ich das toll.

In „Rapunzel“ trifft man auch auf tragische Liebesbeziehungen, verdrängte Trauer und große Einsamkeit. Gibt es eine Szene, die Ihnen persönlich besonders naheging?
Ja, es gibt eine Szene, in der Isabelle Grandjean mit ihrer eigenen Trauer konfrontiert wird – einer Trauer, die lange nicht wirklich ausgesprochen wurde. Ein stiller, beinahe unsichtbarer Schmerz eines Verlustes, der nie ganz geheilt ist. Ich weiß aus persönlicher Erfahrung, dass diese Art von Schmerz sich tief in die eigene DNA bohrt und Anna hat diesen Moment wirklich sehr fein und berührend gespielt. Und ich wurde wieder einmal daran erinnert, was für eine fantastische Schauspielerin sie ist.

„Rapunzel“ erzählt nicht nur einen spannenden Kriminalfall, sondern wirft auch gesellschaftliche Fragen auf. Gibt es etwas aus der Arbeit an diesem Film, das Sie persönlich noch länger beschäftigt hat oder das Ihren Blick auf ein Thema verändert hat?
Die Frage, die mich besonders beschäftigt hat ist: Wem gehört der Körper – und wer verdient daran? Hinter dem Echthaarhandel steckt eine ganze Ökonomie der Ungleichheit.

Außerdem hat mich dieser Fall daran erinnert, wie eng Schönheit und Schmerz beieinanderliegen. Und dass es oft die scheinbar kleinen Details sind – ein Blick, ein Satz, ein Haar – die das Größte erzählen.

Danke für Ihre Zeit!

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