Interview

Sarah Tacke: ‚Das Boot ist nicht voll – es ist schlecht organisiert‘

von

Zehn Jahre nach Angela Merkels berühmtem Satz „Wir schaffen das“ zieht Journalistin Tacke in ihrer neuen ZDF-Dokumentation eine schonungslose Bilanz. Für «Am Puls – Flucht und Krise» ist sie durchs ganze Land gereist, hat Zahlen analysiert, Betroffene getroffen und Behörden begleitet. Im Interview spricht Tacke über gelungene und gescheiterte Integration, strukturelle Versäumnisse seit 2015 – und warum differenzierte Berichterstattung der beste Schutz vor Populismus ist.

Frau Tacke, Sie ziehen zehn Jahre nach Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ Bilanz – was war Ihr persönlicher Eindruck beim Start der Recherche: dachten Sie eher „Ja, wir haben es geschafft“ oder eher „Deutschland ist überfordert“?
Beim Start der Recherche war für mich nur klar, dass ich keine Ahnung habe, ob wir es geschafft haben und dass ich genau das wissen will. Deshalb haben wir uns erstmal sämtliche Zahlen, Daten und Fakten gezogen und analysiert – um zu verstehen: Wie viele Menschen sind zwischen 2015 und heute aus arabischen Ländern nach Deutschland gekommen, wo leben sie, was machen sie, wie viele beziehen Sozialleistungen, wie viele arbeiten, wie viele haben Straftaten begangen. Und meine zweite Quelle, wenn man so will, neben den offiziellen Statistiken sind die Menschen im Land, die mir geschrieben habe. Denn ich habe vorab einen Aufruf gestartet und gefragt: „Was haben Sie in den letzten zehn Jahren konkret erlebt? Gutes und Schlechtes?“ Tausende Menschen haben mir von ihren Erlebnissen und Erfahrungen geschrieben. Und auch wenn ich nur eine Handvoll für den Film besuchen konnte – haben die Zuschriften natürlich ein Bild gezeichnet. Und dann bin ich für den Film durchs ganze Land gereist – Norden, Süden, Osten, Westen. Ich war in sogenannten Brennpunkt-Vierteln, in Kitas und Schulen, in Familien und habe sehr viele Gespräche geführt, um zu verstehen, wie sich unser Land verändert hat. Und mein Eindruck ist, dass die Mehrheit der Menschen, die mir geschrieben haben und die ich gesprochen habe, enttäuscht ist, von der Entwicklung nach dem Satz „Wir schaffen das“.

Im Film kommen Menschen zu Wort, die Integration erfolgreich gemeistert haben – welchen Einfluss hatte das auf Ihre journalistische Bewertung?
Was für mich besonders eindrucksvoll war, ist zu erleben, was ein Mensch innerhalb von 10 Jahren in Deutschland schaffen kann, was also möglich ist. Auch weil dieses Gelingen zeigt, was ein anderer in derselben Zeit und mit denselben Möglichkeiten nicht geschafft hat. Deshalb sind die Beispiele erfolgreicher Integration für mich vor allem Antworten darauf, was den Unterschied macht und wie Integration gelingen kann.

Gleichzeitig zeigen Sie aber auch Überforderung im Alltag – etwa überfüllte Schulen, Ämter oder Wohnungsmangel. Haben wir in der Euphorie der Jahre 2015/16 versäumt, rechtzeitig Kapazitäten aufzubauen?
Ja, das lässt sich rückblickend klar sagen. Die Solidarität war groß, aber es fehlte an strategischem Vorausdenken. So Essentielles und Grundlegendes wie vernetzte und digitalisierte Ausländerbehörden fehlen. Und: Viele Kommunen haben damals schon zu Recht gewarnt, dass ihnen Personal, Wohnraum, Lehrkräfte fehlen. Arme aufmachen reicht nicht. Es braucht auch einen Plan, damit die Ankommenden sich orientieren können und verstehen, was von ihnen erwartet wird.

Die Dokumentation greift auch das Thema Ausländerkriminalität auf. Wie haben Sie es geschafft, hier faktenbasiert zu berichten, ohne populistischen Narrativen Raum zu geben?
Indem wir uns konsequent an die Daten gehalten haben – und an den Kontext. Wer über Kriminalität spricht, muss erklären: Was bedeutet „Tatverdächtige“? Wo gibt es Verzerrungen, etwa durch Polizeikontrollen? Und wie viele Menschen leben rechtstreu, ohne je auffällig zu werden? Nur wer differenziert berichtet, kann Klischees entkräften.

Und wir sind genau dahin gegangen, wo Straftaten durch Ausländer besonders hoch sind. Der Bahnhof in Regensburg ist zum „gefährdeten Objekt“ erklärt worden, was dazu führt, dass die Polizei leichter kontrollieren kann. Und da habe ich eine Einsatz-Nacht begleitet. Also auch hier: Zahlen, Daten und Fakten kombiniert mit eigenem Erleben, das ist es, was diesen Film und die Reihe «Am Puls» für mich ausmacht.

Wie erklären Sie sich die Überrepräsentanz ausländischer Tatverdächtiger in der Kriminalstatistik – und was ist die Realität hinter diesen Zahlen?
Genau das zeigen wir in unserem Film. Dafür habe ich eine spezielle Einheit der Bundespolizei am Hauptbahnhof in Regensburg begleitet, die dort vor rund eineinhalb Jahren zur Gewaltprävention gegründet wurde. Der Hauptbahnhof in Regensburg ist nämlich ein Kriminalitäts-Hotspot. Die Straftaten sind dort zwischen 2019 und 2023 um 165 Prozent gestiegen. Deshalb wurde 2023 der Regensburger Hauptbahnhof von der Bundespolizei zum gefährdeten Objekt erklärt. Heißt: die Polizeibeamten dürfen auch ohne konkreten Verdacht Personenkontrollen durchführen.

Trotzdem wurden im vergangenen Jahr in Regensburg 643 Delikte aus dem Bereich Gewaltkriminalität gemeldet, darunter Körperverletzung, Tötungs- und Raubdelikte – ein Anstieg um 13,2 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen steigt dabei an. Die Tunesier bilden die mit Abstand größte Gruppe nichtdeutscher Tatverdächtiger, gefolgt von Syrern und Bulgaren. Genau diese Fakten und die Realität dahinter zeigen wir in unserem Film.

Wie gehen Sie journalistisch mit dem Vorwurf um, dass Medien die Schattenseiten der Migration lange ausgeblendet oder beschönigt hätten?
Der Vorwurf ist nicht völlig unbegründet. Gerade 2015 herrschte in Teilen der Medien eine gewisse Scheu, Probleme klar zu benennen – aus Angst, Wasser auf die Mühlen der Rechten zu leiten. Aber wer verschweigt, was ist, macht sich angreifbar. Deshalb ist Transparenz der beste Schutz vor Populismus.

Wieviel Empathie und wieviel kritische Distanz darf und muss man in einer solchen Dokumentation zeigen?
Beides ist unverzichtbar. Empathie hilft, Menschen zu verstehen. Kritische Distanz verhindert, dass man sich vereinnahmen lässt. Mein Ziel war es, Menschen eine Stimme zu geben – ohne ihre Geschichten zu instrumentalisieren, weder für eine politische Agenda noch für moralische Überlegenheit.

Sie begleiten Menschen, die es „geschafft“ haben – welche Geschichte hat Sie persönlich am meisten bewegt?
Die Geschichte von Niro, der, wie so viele 2015 aus Syrien kam. Nach nur 10 Jahren hat er gerade sein Lehramts-Examen abgelegt und spricht fränkisch, als wäre er schon seit vielen Generationen in Franken verwurzelt. Er hat auch seinen arabischen Namen abgelegt, und den Namen seiner Frau angenommen. Weil er sagt, ich kann so deutsch oder fränkisch sein, wie ich will – mit meinem arabischen Namen halten mich trotzdem alle für einen Terroristen und ich bekomme keine Wohnung. Das ist natürlich bitter und zeigt den echten Rassismus und die echte Ausgrenzung, die auch jemand erfährt, der sich maximal integriert hat. Niro hat mir gezeigt, was innerhalb von 10 Jahren möglich ist, wenn man kann, will und auf Menschen trifft, die einen unterstützen.

In der aktuellen Debatte ist häufig zu hören: „Das Boot ist voll.“ (ehemals ein NPD-Plakat). Wie ordnen Sie diese Haltung nach Ihren Recherchen ein?
Diese Haltung spiegelt eine reale Überforderung – bei Wohnraum, bei Behörden, bei Bildung. Aber sie greift zu kurz. Das „Boot“ ist nicht voll, es ist schlecht organisiert. Migration ist Realität, keine Ausnahme. Entscheidend ist, wie wir sie gestalten – nicht ob wir sie verhindern können.

Ist das Dublin-Verfahren deshalb gescheitert, weil es unfair ist? Kein Schlepper fährt von Algerien nach Helgoland…
Das Dublin-System ist an seiner eigenen Logik gescheitert. Es überfordert die Staaten an der EU-Außengrenze und entbindet andere Länder faktisch von Verantwortung. Fair ist das nicht – weder für Migranten noch für Länder wie Griechenland oder Italien. Eine gemeinsame funktionierende europäische Lösung ist nötig – seit Jahren, nicht erst seit gestern.

Was würden Sie heute anders machen, wenn Sie eine solche Doku im Jahr 2016 gedreht hätten – also direkt im Angesicht der Flüchtlingskrise?
Ich hätte stärker auf langfristige Fragen geschaut: Was verstehen wir unter Integration? Was erwarten wir, von den Menschen, die zu uns gekommen sind, um sich zu integrieren? Was braucht Integration konkret? Was bedeutet das für Wohnungsbau, für Schulen, für unsere Verwaltung? 2016 waren viele Reportagen sehr emotional – verständlich, aber oft ohne Langzeitperspektive. Heute würde ich früher versuchen, Strukturen zu beleuchten, nicht nur Schicksale.

Vielen Dank für Ihre Arbeit!

«Am Puls mit Sarah Tacke - Flucht und Krise - 10 Jahre "Wir schaffen das"» ist am Donnerstag, den 14. August, um 22.15 Uhr zu sehen. Das ZDF stellt die Dokumentation am Mittwoch um 10.00 Uhr online.

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