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‚Viermal ICH‘

von

Ein literarisches Zeitdokument von Maria Lazar über Freundschaft, Emanzipation und Selbsttäuschung.

Mit dem Roman „Viermal ICH“ wird ein lange verschollenes Werk der österreichischen Autorin Maria Lazar wieder zugänglich gemacht – und das mit erstaunlicher Aktualität. Ursprünglich Ende der 1920er-Jahre in Wien geschrieben, aber nie zu Lebzeiten veröffentlicht, wurde der Text erst 2023 im Nachlass der Autorin entdeckt und erschien nun im Frühjahr 2025 beim Verlag btb. Es ist eine späte, aber umso kraftvollere Rückkehr einer Schriftstellerin, deren Stimme in der deutschsprachigen Literatur lange überhört wurde.

Im Mittelpunkt des Romans stehen vier Freundinnen, die unterschiedlicher kaum sein könnten – im Denken, im Fühlen, in ihren sozialen Hintergründen und Lebensentwürfen. Und doch sind sie durch ihre gemeinsame Schulzeit, ihre ersten Erfahrungen mit Liebe, gesellschaftlichen Erwartungen und Selbstzweifeln tief miteinander verbunden. Maria Lazar erzählt nicht nur von einem weiblichen Erwachsenwerden im Wien der Zwischenkriegszeit, sondern auch von den inneren Kämpfen, die mit der Suche nach Identität und Autonomie verbunden sind.

Lazars Sprache ist klar, gelegentlich kühl, dann wieder von subtiler Ironie durchzogen – eine Mischung, die wunderbar funktioniert. Was besonders beeindruckt, ist die radikale Innensicht, mit der sie die vier Protagonistinnen schildert. Die Leser erhalten intime Einblicke in deren Gedankenwelt: vom leisen Zweifel an gesellschaftlichen Normen bis zur existenziellen Angst vor dem Scheitern. Jede der vier Frauen steht exemplarisch für einen bestimmten Typus der Zeit, doch Lazar vermeidet Stereotype. Vielmehr stellt sie dar, wie komplex und widersprüchlich weibliche Identität in einer von Männern dominierten Welt war – und ist.

Der Roman ist kein nostalgischer Rückblick auf die sogenannten „goldenen Zwanziger“. Im Gegenteil: „Viermal ICH“ entlarvt die gesellschaftliche Enge dieser Zeit, zeigt die zerstörerische Kraft von Erwartungen, Rollenbildern und falscher Loyalität. Besonders stark sind jene Passagen, in denen Lazar beschreibt, wie Freundschaft nicht nur Halt, sondern auch Zwang bedeuten kann. Wie Vertrauen kippt, wenn Lebenswege auseinandergehen. Wie Frauen aneinander scheitern – und an sich selbst.

Neben der psychologischen Tiefe fällt auf, wie politisch das Buch zwischen den Zeilen ist. Auch wenn keine tagespolitischen Ereignisse thematisiert werden, schwingt das heraufziehende Unheil der 1930er-Jahre unterschwellig mit. Die Figuren spüren, dass ihre Zeit aus dem Gleichgewicht gerät – dass das gesellschaftliche Fundament bröckelt. Und doch halten sie an alten Mustern fest, als könnten diese Sicherheit geben.

Dass dieses Buch Jahrzehnte unveröffentlicht blieb, erscheint heute fast unbegreiflich. „Viermal ICH“ ist nicht nur literarisch relevant, sondern auch historisch aufschlussreich. Es zeigt, wie früh Frauen wie Maria Lazar versuchten, ihre Perspektive in eine männlich dominierte Literatur einzuschreiben – und wie systematisch diese Stimmen marginalisiert wurden. Umso verdienstvoller ist es, dass der Wiener Verlag „Das vergessene Buch“ das Werk nun zugänglich gemacht hat.

„Viermal ICH“ ist eine kraftvolle Wiederentdeckung: ein tiefgründiger, stellenweise schmerzhafter Roman über weibliche Freundschaft, Selbstsuche und das Ringen mit gesellschaftlichen Zwängen. Maria Lazar zeichnet mit beeindruckender Klarheit und psychologischer Genauigkeit ein Bild vom Leben junger Frauen in einer Epoche im Umbruch. Was sie erzählt, ist auch 100 Jahre später noch berührend, relevant – und leider oft erschreckend aktuell.

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