Debatte

«Unfassbar!»: «X Factor» – ein ungenutztes internationales Potenzial

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Der «X-Factor»-Marathon zu Halloween ist eine der beliebtesten Gewohnheiten im deutschen TV. Dies bewegte RTLZWEI sogar, neue Episoden der einstigen US-Produktion herzustellen, die aber nicht das Urspungs-Feeling erreichen. Es braucht eine internationale Größenordnung, meint Mario Thunert.

Auch wenn «X-Factor: Das Unfassbare» in den USA bereits 2002 eingestellt wurde, ist es aktuell weiterhin eines der erfolgreichsten Formate im deutschen TV bzw. im RTLZWEI-Programm. Um die Mystery-Reihe, die vier Staffeln umfasste und ab 1997 vom US-Network FOX in Auftrag gegeben wurde, entwickelte sich hierzulande ein regelrechter Kult, der auch nach 25 Jahren anhält. Gefeiert wird das Jubiläum heute mit einem weiteren Marathon kurz vor Halloween, der RTLZWIE in den letzten Jahren bis zu neun Marktanteil einbrachte.

Dies an sich ist schon ein außergewöhnliches Phänomen. Zu einem beinahe unfassbaren wurde es, als die TV-Station aus München vor zwei Jahren (nach dem unwürdigen Intermezzo eines in Deutschland produzierten Ablegers) die Entscheidung zu einem wirklichen Remake traf und neue Folgen mit Original-Moderator Jonathan Frakes in den USA herstellen ließ. Eine von einem deutschen Kanal beauftragte Sendung, die ursprünglich aus den USA kommt und nun erneut in Amerika mit amerikanischen Schauspieler*innen produziert und nachträglich wieder synchronisiert wird - ein wohl einzigartiger, aber auch absurd anmutender Vorgang in der TV-Geschichte, sieht man von internationalen Koproduktionen ab.

Die Idee der Verantwortlichen, Jonathan Frakes von der abermaligen Moderation zu überzeugen, die Entscheidung, mit Wiedemann & Berg eine mystery-erfahrene Film- & Serien-Schmiede zu beauftragen, die die Herstellung der Kurzfilme über Kooperationspartner wieder nach Übersee verlagert, und die sogar Weichzeichner einsetzt, um den verwaschenen 90er/2000er-TV-Look zu imitieren – das alles sind Ansatzpunkte, die plausibel erscheinen. Mehr noch: Sie zeigen Einsatz und Reflektionswillen, das Format in die richtige Richtung zu entwickeln. Ja, es lässt sich eine Vision erkennen, für die dem RTLZWEI-Team um Gerhard Putz sowie den beiden Produzenten Holger Frick und Benjamin Munz Respekt zu zollen ist.

Leider kommt aber auch die aufgewertete Reboot-Version nicht an das Flair des Originals heran. Während soliden Fällen wie ''Die Nonne'' oder ''Der Romanautor'' (beide aus Folge 3, Staffel 5 vom 30.10.02) ein paar Quäntchen Atmosphäre fehlt, laufen andere entweder dramaturgisch halbgar ins Leere (''Verloren im Wald'') oder enden im absoluten Trash (''Teuflische Verbindung''). Auch eine hochwertig illustrierte Geschichte wie ''Kopfloser Reiter'', die von der optischen Umsetzung Eindruck macht, plätschert vor sich hin, weil sie wiederum in Handlungsabfolge und Timing unzureichende Mängel aufweist, die die gerade für «X-Factor» wichtigen Schauder-Momente wirkungslos belassen. Insgesamt sind die Filme trotz Weichzeichnern zu sehr auf Hochglanz getrimmt, sind zu explizit und zu wenig diffus.

Das alles sind signifikante Aspekte die mit-verantwortlich dafür sein können, dass die im März ausgestrahlten neuen Episoden auf schlechte 3,3 Prozent in der Zielgruppe krachten. Abgesehen von inhaltlichen Schwächen ist es aber vor allem auch die Verfehlung des für «X-Factor» typischen theatral pathetischen Darstellungs- und Inszenierungs-Stils mit Trash-Grusel-Nuancen: Was sich hier zeigt, ist das Feststecken im Versuch, 'die' amerikanische Machart zu imitieren/reproduzieren, jedoch ohne wirklich deren Qualität zu erreichen. Neben Abstrichen im Geld- & Zeit-Budget kommt dabei vielleicht auch der Umstand zum tragen, dass die Kurzfilme zwar in den USA mit amerikanischen Darsteller*innen gedreht werden, jedoch nicht aus Amerika heraus für Amerika entstehen. Selbst wenn es wahnsinnig stereotypisierend klingt, kann diese Dimension der Verwurzelung/Verflechtung die Qualität der Machart und Stilisierung beeinflussen.

Doch auch in der deutschen/europäischen Außenwahrnehmung spielt die (nun fehlende) internationale Getragenheit des Handlungsortes durch Amerika als Produzent und Urheber des Contents eine Rolle. So nimmt die Verortung gerade bei Mystery-Rezeptionen eine nicht unerhebliche Stellung ein, in der die Distanz eine Rampe für Idealisierungen und Projektionen von Träumen, Sehnsüchten wie damit verbundenen Legenden- & Mythenbildungen aufmacht. Amerika als exotisierter und stilisierter Sehnsuchtsort funktioniert insofern nicht nur als Ort des 'American Dreams', sondern auch als träumerischer Ort des Grusels, des Geisterhaften, Unwirklichen, Unmöglichen, eben des Unfassbaren. Genau diese imaginierte illusorische Sphäre, die sich durch die Verschiebung in die Ferne aufrechterhält, ist in der Neuauflage nicht mehr gegeben, da sie nicht an/in Amerika haftet, sondern in einer Unentschiedenheit wieder an den deutschen Kosmos zurückgebunden wird. Damit wird die Projektion einer 'anderen' Welt, in der das Unfassbare doch irgendwie möglich ist, aufgehoben - und damit einer der wichtigsten Erfolgsfaktoren aus hiesiger Sicht.

Das wirkt sich zudem auf die Lesart des für «X-Factor» typischen Stils aus, den man mit Bezug auf Amerika kauft, mit Bezug zu Deutschland eher nicht. Klar ist, das dies natürlich eine exotisierende eurozentristische Perspektive auf dieses (kulturelle) Medienprodukt ist, die aber zugleich den zwielichtigen Reiz der Mystery-Katharsis ausmacht. Gerade aus diesem offenkundigen Egoismus heraus sei die These und Forderung aufgestellt, dass «X-Factor» nur als amerikanische Produktion für den amerikanischen und internationalen Markt funktionieren kann, woraus ein internationales Branding und eine internationale Vermarktung resultieren sollte.

Legitimieren lässt sich diese Forderung auch mit einem zumindest soliden Potenzial von über acht Millionen Zuschauer*innen in der Hochzeit der Reihe auf FOX, auf das sich auch in den USA selbst aufbauen ließe. Aktuell zu einer neuerlichen Phase des Mystery-Hypes würde sich die Sendung neben «Stranger Things», «The Watcher» und Co. perfekt in das (internationale) Portfolio von Netflix einfügen. Zum Beispiel an weltweiten «X-Factor»-Aktionstagen zu Halloween, Freitag den 13., Silvester und Gewitter-Specials in Sommernächten, an denen jeweils eine neue Ausgabe veröffentlicht wird, die auch nur an diesem Tag verfügbar ist. Da die Show aber durchaus fürs lineare TV attraktiv bleibt und RTLZWEI eng verbunden mit ihr ist, lässt sich dieser Event-Modus auch dort weiterhin denken, nur eben in internationaler Parallelität in Amerika und auf anderen Kooperationssendern in Europa. Durch Netflix könnte jedoch ein wesentlich höheres Produktionsvolumen zur Verfügung gestellt werden, welches erforderlich ist, um vor allem die Filme, aber auch das zu flache Studio der Neuauflage, auf ein anderes Level zu bringen und eventuell sogar führende Mystery-, Horror- und Crime-Autoren/Regisseurinnen zu engagieren.

Sie hätten weitergehend die Aufgabe, neue Storymuster zu etablieren und einige Kinderkrankheiten des frakeschen Mystery-Kults auszumerzen. Etwa die Erhöhung der teilweise zu kurzen Erzählzeit der Filme, um die Ereignisse weniger zu stauchen und ein zu schnelles Knall-auf-Fall-artiges Abhandeln zu verhindern. Vorstellbar wäre die Reduzierung auf vier Geschichten pro Ausgabe mit bis zu 15 Minuten Laufzeit, die vom Modus näher an Filmfälle von Aktenzeichen heranrücken. Damit verbunden sein könnte insgesamt eine konsequentere Retro-Haftigkeit sowie Fokussierung auf den Horror- und Gruselfaktor, auch in Verbindung mit einer stärkeren Anlehnung an True-Crime, die das Repertoire der Fälle erweitert. Dieses sollte in einer größeren Bandbreite von Unheimlichkeiten mehr Abwechslung bieten vom gleichförmigen Moral-Narrativ des bösen Menschen, der von einem Geist bestraft wird, oder des guten Menschen, der von einem guten Geist unterstützt wird. Dann hätte «X-Factor» das Potenzial, mit dem Vibe einer weltweiten Zuschauer*innen-Gemeinde im Rücken, nochmal eine ganz neue Sogkraft zu entwickeln.

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