Die Kritiker

«Tatort – In seinen Augen»

von

Kann es sein, dass eine wohlhabende, vom Leben verwöhnte Frau tatsächlich ihren nicht unerheblichen Besitz nach ihrem Tod einer Freundin vererbt, mit der es das Leben nicht so gut gemeint hat? Natürlich ist das möglich, Kommissarin Ellen Berlinger schmecken allerdings einige äußere Umstände an diesem Fall nicht.

Stab

DARSTELLER: Heike Makatsch, Sebastian Blomberg, Michaela May, Klaus Steinbacher, Ulrike Krumbiegel, Abak Safaei-Rad, Jule Böwe, Raine Laupichler
REGIE: Tim Trageser
KAMEA: Eckard Jansen
DREHBUCH: Thoms Kirchner
MUSIK: Andreas Weidinger
PRODUZENT: Marc Müller-Kaldenberg
Der vierte Fall der Ellen Berlinger erzählt seine Geschichte nicht auf einem Zeitstrahl von A nach B nach C. Rückblicke sind erlaubt, vor allem solche, die die Beziehung der beiden Frauen, die im Mittelpunkt des Geschehens stehen, umfangreich beleuchten.

Auf der einen Seite ist Bibiana Dubinski. Bibiana ist Mitte 60 und vom Leben verwöhnt. Sie lebt in einer schicken Villa, ihre Konten sind prall gefüllt, mit ihrem Wohlstand aber sind keinerlei Pflichten verbunden. Bibiana ist ein glücklicher Mensch, frei von Sorgen und Nöten. Ihr Leben ist ein einziger Urlaub. Anders sieht das Leben von Charlotte Mühlen aus. Finanziell nicht gerade auf Rosen gebettet, verliert sie auch noch ihren einzigen Gefährten. Auch wenn der „nur“ ein Vierbeiner gewesen sein mag, war der doch immerhin ein treuer Begleiter. Charlotte hat weniger Glück in ihrem Leben gehabt als die äußerst wohlhabende Bibiana.

Dennoch sind diese beiden sehr unterschiedlichen Frauen Freundinnen. Wie sich im Verlauf der Geschichte zeigen wird, mag Bibiana den Ton angegeben haben gegenüber der eher schüchternen Charlotte, aber ihre Freundschaft ist gewachsen und Bibiana hat Charlotte wirklich gerne gehabt. So gerne, dass sie sie in ihrem Testament berücksichtigt hat: Als Erbin ihres Wohlstandes. Es ist ein Erbe, das Charlotte vollkommen überrascht antritt, nachdem Bibiana nicht weniger überraschend verstirbt. Bibiana ist Diabetikerin. Die Krankheit hat ihr Leben nicht sonderlich beeinträchtigt, sie hat mit ihr gelebt – fertig. Doch dann geht etwas schief, Bibiana erleidet einen Insulinschock und stirbt.

Zwei Wochen später verhaften Ellen Berlinger und ihr Kollege Rascher Hannes Petzold. Dieser Hannes ist Charlottes spätes, überraschendes Glück (jenseits des unerwarteten Erbes). Hannes ist deutlich jünger als Charlotte. Er sieht gut aus, ist sportlich, charmant. Allerdings hat er auch sechs Jahre im Gefängnis gesessen.

Das ist also der Einstieg in diesen «Tatort». Die Verhaftung eines Verdächtigen steht am Anfang. Was genau passiert ist, warum er verhaftet worden ist, das erzählt der Film nun immer wieder in Rückblicken. Das Drehbuch von Thomas Kirchner ist dabei schlau genug, immer wieder Haken zu schlagen, die vermeintliche Gewissheiten infrage stellen: Zumindest während der ersten Stunde seiner Spielzeit, die regelrecht im Flug vergeht. Für Kommissarin Berlinger steht fest, dass Hannes ein Erbschleicher ist, der sich einer einsamen Frau an den Hals geworfen hat, um an das große Geld zu kommen. Wofür er nur leider eine andere Frau aus dem Weg räumen musste. Die Frage, die im Raum steht: Woher wusste er von dem Testament und wie hat er das mit dem Insulin gedreht? Das Problem, vor dem die Kommissarin derweil steht: Sie hat zwar das Gefühl, dass beim Tod der Bibiana Dubinski nachgeholfen worden ist, einen Beweis aber besitzt sie nicht. Daher muss sie Staatsanwältin Jasmin Winterstein davon überzeugen, dass sie ihr Freiräume im Rahmen der Ermittlungen zugesteht, Ermittlungen, die auf tönernen Füßen stehen, da es keine konkreten Hinweise auf ein Verbrechen gibt und der Tod der alleinstehenden Millionärin als tragisches Unglück eigentlich längst zu den Akten gelegt worden wäre – würde sich Ellen Berlinger nicht so in diese Geschichte verbeißen.

Dass die Kommissarin dabei über die Stränge schlägt, macht sich nicht gerade zur favorisierten Kommissarin der Staatsanwältin. So muss Berlingers Kollege Rascher immer wieder als Schiedsrichter fungieren, auch, da er einen guten Draht zur Staatsanwältin hat.

Rund eine Stunde lang lebt der «Tatort» davon, dass er kein gesellschaftlich relevantes Thema wie etwa den gerne thematisierten Mietwucher aufgreift, um seinen bildungspolitischen Auftrag als poltisch-korrektes «Telekolleg» der Nation wahrzunehmen. Nein, «In seinen Augen» bewegt sich in klassischen Kriminalgeschichtengewässern, die vermutlich sogar einer Agatha Christie einen sanften Applaus abverlangt hätten.

Mord aus Habsucht!
Kann es ein klassischeres Krimithema geben? Es fehlt nur noch der Hinweis darauf, dass ein Mord zum Fünf-Uhr-Tee unhöflich wäre, und schon könnte die Geschichte in einer hübsch anzuschauenden englischen Grafschaft spielen.

Leider aber ist dies am Ende immer noch ein «Tatort» und da darf nicht einfach aus Habsucht gemordet werden. Wie wäre es, wenn die Staatsanwältin eine Tochter hätte, die plötzlich in Gefahr gerät? Und warum sollte der Gigolo Hannes nicht auch noch einen Sohn haben, der mit dem Tun seines Vaters hadert? Kinder sind immer gut, um die große Moral- und Tragikkeule aus dem Keller zu holen, wenn eine Geschichte Gefahr läuft, einfach nur unterhalten zu wollen. Wo käme der «Tatort» denn hin, würde er sich einfach einmal in klassischen Mordgewässern ohne zumindest einen tragischen Unterbau bewegen, wenn schon das große gesellschaftlich relevante Thema der Woche ausnahmsweise einmal ausfällt?

Präsentiert «In seinen Augen» eine Stunde lang eine klassische Mörderjagd und präsentiert diesen in einem eher lockeren Ton (zumindest soweit, als dass Berlinger und Rascher einem Gegner mit Hannes gegenüberstehen, der genau weiß, wie sie ticken und sich nicht einmal die Mühe macht, sie nicht spüren zu lassen, dass er es genießt, sie auflaufen zu lassen), verdüstert sich die Inszenierung auf ihren letzten Metern und wird zum ganz großen, dunklen Drama, das jedoch keinerlei Funken mehr fliegen lässt. Der «Tatort» wird zum «Tatort», der sein dunkles, finsteres Ende benötigt, weil das halt so sein muss. Ist «In seinen Augen» in seinen besten Momenten eine spottende Komödie (der Begriff Burleske mag etwas hochgegriffen sein, aber Ansätze lassen sich nicht verhehlen), ändern sich ohne eine wirkliche Not im letzten Akt der gesamte (lockere) Inszenierungsstil, der narrative Ton, das gesamte Szenario. Leider ist dies kein Bruch, der der Story einen neuen – überraschenden – Schwung herleihen würde, den man so nicht erwartet hätte, der sich aber dennoch nahtlos an die vorangegangenen Kapitel anschießt. Nein, der Bruch geschieht des Bruches wegen, und das ist niemals gut.

Als Heike Makatsch 2016 zum ersten Mal in die Rolle der Ellen Berlinger geschlüpft ist, wurde ihr Einstand als «Tatort»-Ermittlerin, «Fünf Minuten Himmel», als Event verkauft – und an einem Ostermontag ausgestrahlt: Einem Sendetermin, der gemeinhin für besondere Anlässe reserviert ist. Auch der zweite Berlinger-«Tatort» 2018 landete auf diesem begehrten Sendeplatz. Angeblich sollte «Fünf Minuten Himmel» ein einmaliges Event darstellen. Ob es stimmt? Mit 7,99 Millionen Zuschauern bewegte sich das Zuschauerinteresse im durchschnittlichen Rahmen – allerdings unterhalb der Quoten der «Tatort»-Stars. Mit knapp über 9 Mio Zuschauern hat Heike Makatschs zweiter Auftritt «Zeit der Frösche» zwar deutlich mehr Zuschauer an die Bildschirme gefesselt, aber dessen Bewertung fiel zumindest in der Kritik noch schlechter aus.

Wurde der Spielort vom ersten Teil (Freiburg im Breisgau) im zweiten Teil nach Mainz verlagert, dient die rheinland-pfälzische Landeshauptstadt auch im nunmehr vierten Fall als Kulisse, jedoch ist von einer Event-Platzierung nichts mehr zu spüren. Mehr noch als das: Als letzter «Tatort» vor der Sommerpause zu einem ungewöhnlich späten Termin in der Programmierung (an dem erste Bundesländer bereits in die Ferien aufgebrochen sind), steht die Frage im Raum, ob die Figur der Ellen Berlinger gescheitert ist. Wurde im dritten Berlinger-«Tatort» «Blind Date» im Oktober 2021 immerhin noch das Privatleben der Ermittlerin ausführlich thematisiert, als ein Teil ihrer Persönlichkeit, das sich von ihrem Beruf nicht trennen lässt, findet ein Privatleben der Ellen Berlinger in diesem Film nicht mehr statt. Ellen Berlinger, als Eventermittlerin gestartet, ist in der Masse des deutschen Kriminalfilmes angekommen.

Am Sonntag, 26. Juni 2022, Das Erste, 20.15 Uhr

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