Interview

Vivian Dittmar: ‚Konsum aktiviert im Gehirn unser Belohnungssystem‘

von

Weniger ist mehr: Quotenmeter sprach mit der Autorin, Gründerin der Be the Change-Stiftung und Impulsgeberin für kulturellen Wandel über echten Wohlstand.

Sie plädieren in Ihrem Buch „Echter Wohlstand“ für neue Werte.
In unserer Gesellschaft definieren wir Wohlstand vorrangig über Geld, Besitz und Status. Diese sehr materialistische Definition von Reichtum blendet aus, dass viele menschliche Bedürfnisse nicht mit Geld zu erfüllen sind. Indem wir uns stark auf das Maximieren von materiellem Reichtum konzentrieren, opfern wir unbewusst und unbeabsichtigt immer mehr davon, was das Leben wirklich reich und schön macht: Zeit für Müßiggang, erfüllende Beziehungen, gelebte Kreativität, Kontakt mit der unbändigen Schönheit der Natur und dem Mysterium des Lebens selbst.

Ich muss Ihnen gestehen, ich habe kaum Besitz in meiner Wohnung. Die Dinge, die ich brauche, sind relativ übersichtlich. Sollte man daher Platz für neue Ideen schaffen?
Wenig Dinge können eine gute Voraussetzung sein, um sich mehr auf nicht-materiellen Wohlstand auszurichten. Ich kenne aber auch Menschen, die viele Dinge um sich haben und innerlich reich sind. Es kommt also offenbar weniger auf die Anzahl der Dinge an, als auf unser Verhältnis zu ihnen. Sind wir versklavt von der Fürsorge für diesen Besitz? Sind wir vereinnahmt von der Zeit, die uns ständig zu fehlen scheint, um all diese Dinge auch zu nutzen? Dann ist es sicher sinnvoll, auszumisten.

Menschen erzählen, Sie kaufen sich neue Besitztümer und sind relativ schnell vom Kaufrausch unbefriedigt.
Hinter diesem weit verbreiteten Phänomen steckt eine Suchtdynamik. Konsum aktiviert im Gehirn unser Belohnungssystem. Es werden Glückshormone ausgeschüttet und wir erleben einen kurzen Kick. Dieser ebbt jedoch bald ab, weshalb wir schon bald den nächsten Kick brauchen. Und genau wie bei anderen Süchten gibt es einen Gewöhnungseffekt, so dass wir immer stärkere Kicks brauchen.

Das eigentliche Problem ist jedoch ein anderes: das kapitalistische System ist sensationell gut darin, uns Kicks zu verkaufen, ohne unsere eigentlichen Bedürfnisse zu befriedigen. In der Werbung kann man das sehr gut sehen. Diese verspricht uns nicht nur ein Konsumerlebnis, sondern meistens auch die Erfüllung eines emotionalen oder sozialen Bedürfnisses: wir sind plötzlich beliebt, erfolgreich oder attraktiv. Genau dieses Versprechen kann ein Softdrink, ein Deo oder ein Auto jedoch nicht halten.

Seit einem Jahr beschäftigt uns das Thema Corona. Die Politik ermuntert uns die Kontakte, die wir haben, möglichst einzuschränken. Trotz Schnelltests hält man an diesen Ideen fest, ist das nicht eigentlich ein Fehlschuss, da Freundschaften sehr wichtig sind?
Es gibt am derzeitigen Umgang mit der Pandemie viel zu kritisieren, was ja auch ausführlich geschieht. Ob das konkret ein Fehlschuss ist oder nicht, ist hierbei eine Detailfrage, die ich persönlich nebensächlich finde. Viel wichtiger ist die Feststellung, dass soziale Kontakte natürlich sehr wichtig für uns sind und eine radikale Einschränkung hohe Kollateralschäden mit sich bringt: Depressionen, Angsterkrankungen und Einsamkeit nehmen epidemische Ausmaße an. Ob diese ausreichend berücksichtigt wurden, ist fraglich. Wir tendieren als Gesellschaft ja nicht nur dazu, Wohlstand materiell zu definieren, sondern auch uns selbst. Daher steht beim Thema Gesundheit immer der körperliche Aspekt im Vordergrund. Wir betrachten und behandeln uns als Bio-Maschine. Das ist einer der vielen blinden Flecken, die durch die Pandemie überdeutlich wurden. Mir persönlich gefällt, wie stark uns allen bewusst wurde, wie sehr wir auf soziale Kontakte und Nähe angewiesen sind. Das ist eine Chance, dem in Zukunft eine höhere Priorität einzuräumen.

Meine Oma sagte immer „Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt“.
Gewiss, weise Worte, insbesondere in einer Krisenzeit wie dieser. Doch auch der Beruhigungseffekt von Geld ist begrenzt. Es beruhigt soweit es materielle Bedürfnisse absichern kann. Das ist natürlich wichtig. Doch darüber hinaus hilft es uns nicht weiter. Emotionale Sicherheit können wir im Geld beispielsweise nicht finden. Dafür brauchen wir gesunde, erfüllende Beziehungen mit Menschen, denen wir nichts vorspielen müssen und auf die wir uns wirklich verlassen können. Diese Qualität des Miteinanders hat in den reichen Industrienationen in den letzten Jahrzehnten beständig abgenommen.

Sie thematisieren unter anderem die „unsichtbare Armut“. Beispielsweise wird ermuntert, auf Bio-Strom zu wechseln und sich ein Elektroauto zuzulegen. Ist das denn für einen Großteil der Bevölkerung überhaupt möglich?
Die unsichtbare Armut, die ich in meinem Buch auch beschreibe, ist eine innere Armut. Sie hat nichts mit einem Elektroauto oder meinem Stromanbieter zu tun. Sie äußert sich beispielsweise in den bereits thematisierten Süchten, den steigenden psychischen Krankheiten, der zunehmenden Einsamkeit.

Die Energie- oder die Verkehrswende sind gesamtgesellschaftliche Herausforderungen, vor denen wir stehen, letztlich global. Es ist ein großer Fehler des derzeitigen Systems, dass es ein Luxus ist, die eigenen Grundbedürfnisse zu erfüllen, ohne die eigenen ethischen Grundwerte zu verraten. Es sollte keine Frage der persönlichen Prioritäten sein, ob wir unseren Enkelkindern einen Planeten überlassen, der ein gutes Leben ermöglicht. Hier braucht es drastische Veränderungen, vor allem in der Subventionspolitik. Die aktuelle Politik verzerrt die realen Kosten, so dass es günstiger wirkt, beim Discounter einzukaufen als im Bio-Laden. Für den einzelnen trifft das zu, doch gesamtgesellschaftlich zahlen wir drauf, durch die kaputten Ökosysteme oder die ausgebrannten Menschen. Diese so genannten externalisierten Kosten tauchen in keiner Bilanz auf, doch die Rechnung zahlen wir alle und natürlich die zukünftigen Generationen.

Um den Wohlstand für alle zu sichern, braucht es höhere Steuern für Reiche oder doch ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle?
Eine höhere Besteuerung für Reiche ist mehr als überfällig. Es gab in der gesamten Geschichte der Menschheit noch nie so eine hohe Konzentration von Geld und damit Macht in einigen wenigen Händen. Das ist extrem gefährlich. Unzählige Studien konnten inzwischen eindeutig nachweisen, dass Ungleichheit eine Gesellschaft krank macht und zwar von ganz „oben” bis ganz „unten”.

Mit steigender Ungleichheit verschlechtern sich unzählige Indikatoren für Wohlergehen: psychische Erkrankungen, Kriminalität, Teenagerschwangerschaften, Übergewicht, Mordraten, Gewalt, Anzahl der Bevölkerung im Gefängnis, Lese- und Rechenfähigkeit bei Kindern, Drogen- und Alkoholsucht, Kindersterblichkeit, um nur einige Beispiele zu nennen. Eine Umverteilung und eine wirksame Begrenzung der Ungleichheit ist daher in unser aller Interesse.

Ob ein bedingungsloses Grundeinkommen dafür der beste Weg ist bezweifle ich, da es in vielen Menschen den Eindruck zementieren könnte, dass sie nicht gebraucht werden und dass es egal ist, was sie mit ihrem Leben machen. Das stimmt meines Erachtens nicht. Es ist ein menschliches Grundbedürfnis, sich einzubringen und dafür gewürdigt zu werden. Wir wäre es, wenn aus Job-Centern Potenzialentfaltungscenter würden und Menschen großzügig darin unterstützt würden, genau ihren Beitrag zu einer echten Wohlstandsgesellschaft zu finden und umzusetzen?

Seit der Industrialisierung sank die Arbeitszeit der Menschen. An der 40-Stunden-Woche wird allerdings festgehalten. Sollte man diese Grenzen nicht neu denken, um mehr Wohlstand für alle zu haben?
Auf jeden Fall. Der Postwachstumsökonom Niko Paech plädiert beispielsweise für 20-Stunden Erwerbsarbeit pro Woche. Dann hätten wir weitere 20 Stunden Zeit für all jene Tätigkeiten, die auch Arbeit sind, die jedoch heute viel zu kurz kommen und für die uns niemand bezahlt: Kinder, Haushalt, politisches Engagement, Kranken- und Altenpflege. Wir hätten dann auch mehr Zeit, öfter mit dem Rad zu fahren, einen Garten zu bestellen oder Dinge zu reparieren, statt uns mit einem Klick Ersatz zu bestellen. Untersuchungen haben außerdem gezeigt, dass Menschen in vierzig Stunden gar nicht maßgeblich mehr leisten als in zwanzig. Das gibt einem schon zu denken.

Haben Sie Tipps, um in der Pandemie inneren Reichtum nicht zu verlieren?
Die Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen sind auch eine große Chance, sich auf inneren Reichtum zu besinnen. Vieles fällt weg und wird in Frage gestellt. Das muss nicht nur negativ sein. Uns wird bewusst, auf was wir auch in Zukunft gut verzichten können und ohne was wir auf keinen Fall leben wollen. Mein Tipp wäre, die Zeit zu nutzen, um sich mutige Fragen zu stellen wie: Welche Kontakte nähren mich wirklich? Welche Dinge brauche ich eigentlich? Wie viel ist genug? Welche Talente schlummern in mir, die ich schon immer mal leben wollte, jedoch nie den Mut oder die Zeit dafür hatte?

Sie haben auch über den Beziehungswohlstand geschrieben.
Wir sind alle verschieden. Es gibt jedoch bestimmte menschliche Grundbedürfnisse, die oft übersehen werden oder in unserer Gesellschaft zu kurz kommen. Was Beziehungen betrifft ist dies vor allem das Bedürfnis, einfach so sein zu können, wie man ist und Menschen zu haben, auf die man sich wirklich verlassen kann.

Vielen Dank.

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