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Wissenschaftler fordern mehr Aufmerksamkeit für den globalen Süden

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Die blinden Flecken der Berichterstattung: Warum der Globale Süden in unseren Medien kaum vorkommt. Jetzt haben sich mehrere tausend Wissenschaftler zusammen geschlossen und wollen ein Umdenken der Berichterstattung.

Während täglich Nachrichten über politische Auseinandersetzungen in den USA, wirtschaftliche Entwicklungen in Europa oder parteipolitische Debatten in Berlin den Ton angeben, bleibt ein riesiger Teil der Welt in den deutschsprachigen Medien weitgehend unsichtbar. Nur rund zehn Prozent aller journalistischen Beiträge beschäftigen sich mit dem Globalen Süden – obwohl dort rund 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Das Missverhältnis ist gravierend und führt dazu, dass fundamentale Ereignisse mit dramatischen humanitären und politischen Folgen hierzulande praktisch nicht im kollektiven Gedächtnis verankert sind.

Ein aktuelles Positionspapier, ausgearbeitet von einem Netzwerk rund um den Wissenschaftler Ladislaus Ludescher (Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main), macht diese Schieflage deutlich. Unterzeichnet wurde das Papier von mehr als 1.300 Personen aus dem akademischen Bereich, darunter rund 750 Professorinnen und Professoren. Unterstützt wird es außerdem von 150 wissenschaftlichen Institutionen sowie Nichtregierungs- und Hilfsorganisationen. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner stammen aus einem breiten Spektrum an Disziplinen: von Agrar- und Klimawissenschaften über Philosophie, Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft bis hin zu Soziologie, Kommunikationswissenschaft und Theologie. Auch zahlreiche Medienschaffende gehören zu den Unterstützenden.

Das Netzwerk hat es sich zur Aufgabe gemacht, auf die dramatische mediale und politische Vernachlässigung des Globalen Südens aufmerksam zu machen. Das Papier dokumentiert nicht nur die geringen Berichterstattungsanteile, sondern benennt auch konkrete Folgen: Ereignisse von globaler Tragweite, die Millionen Menschen betreffen, werden hierzulande kaum oder gar nicht thematisiert.

So fand die Hungersnot in Somalia 2011, bei der über eine Viertelmillion Menschen starben – zur Hälfte Kinder unter fünf Jahren –, in den Leitmedien nur am Rande statt. Ähnlich verhielt es sich mit dem seit 2014 andauernden Krieg im Jemen, den die Vereinten Nationen über Jahre hinweg als „schlimmste humanitäre Krise der Welt“ bezeichneten. Und auch der Bürgerkrieg in der äthiopischen Region Tigray, bei dem rund 600.000 Menschen ums Leben kamen und der als „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“ gilt, wurde kaum behandelt. Diese Ereignisse sind in Deutschland praktisch nicht im öffentlichen Bewusstsein verankert – eine Leerstelle, die gravierende Folgen für die politische Aufmerksamkeit und Handlungsfähigkeit hat.

Das Positionspapier warnt: Informationsmedien wie Nachrichtensendungen, Reportagen oder politische Diskussionsrunden haben eine Schlüsselfunktion für Meinungsbildung und Agenda-Setting. Sie bilden nicht nur ab, worüber gesprochen wird, sie bestimmen auch mit, was in der öffentlichen Debatte überhaupt vorkommt. Wenn das Nachrichtengeschehen vor allem nach geographischen Kriterien sortiert wird – also nach der Nähe zu Europa oder Nordamerika – dann verschwinden menschliche Dimensionen anderer Regionen aus dem Blickfeld.

Noch problematischer ist die Art der wenigen Berichterstattung, die überhaupt stattfindet. In den seltenen Beiträgen über den Globalen Süden dominieren negative, monodimensionale Bilder: Krieg, Hunger, Korruption. Positive Entwicklungen, wirtschaftliche Dynamik, kulturelle Innovationen oder politische Bewegungen, die Hoffnung machen, tauchen so gut wie gar nicht auf. Das fördert eine fatalistische Wahrnehmung: Der Globale Süden erscheint als hoffnungsloser Krisenraum – ein Zerrbild, das den dortigen Realitäten nicht gerecht wird.

Langzeitstudien belegen, dass dieses Muster in über 40 untersuchten Medienformaten im deutschsprachigen Raum konstant nachweisbar ist. Nur wenige Ausnahmen, wie etwa das «ARTE Journal» mit einem Global-Süd-Anteil von bis zu 35 Prozent, durchbrechen diese Logik. In den meisten Leitmedien hingegen bleibt das Verhältnis zwischen Globalem Norden und Süden unverändert schief.

Dabei wird übersehen, dass die Entwicklungen im Globalen Süden auch für Europa von unmittelbarer Relevanz sind. Fragen der Migration, die Stabilität globaler Lieferketten, sicherheitspolitische Risiken, aber auch wirtschaftliche Chancen sind eng mit diesen Regionen verknüpft. Wer über Dürren in Ostafrika oder politische Umbrüche in Südostasien nicht berichtet, riskiert, zentrale globale Zusammenhänge nicht zu erkennen.

Das Positionspapier fordert deshalb, den Globalen Süden stärker in den medialen Fokus zu rücken – quantitativ wie qualitativ. Es gehe nicht darum, Kriege oder Katastrophen zu verharmlosen, sondern darum, ein realistischeres und ausgewogeneres Bild zu vermitteln. Dazu gehöre auch die Darstellung von positiven Entwicklungen: wachsende Demokratien, soziale Bewegungen, wirtschaftliche Innovationen oder kulturelle Strömungen, die weit über die jeweiligen Länder hinaus Bedeutung entfalten können.

Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner betonen, dass sich der Globale Norden nicht leisten könne, über 85 Prozent der Weltbevölkerung weiterhin uninformiert zu bleiben. Denn die globalen Herausforderungen der Zukunft – vom Klimawandel über geopolitische Verschiebungen bis hin zu Handelsfragen – lassen sich nicht im nationalen oder europäischen Tunnelblick lösen.

Am Ende bleibt die Diagnose klar: Der Globale Süden ist in unseren Medien massiv unterrepräsentiert. Das Missverhältnis von 85 Prozent der Weltbevölkerung gegenüber gerade einmal zehn Prozent Berichterstattung ist nicht länger hinnehmbar. Es ist eine ethische, politische und journalistische Aufgabe, diesen blinden Fleck zu schließen – nicht nur, um ein vollständigeres Bild der Welt zu vermitteln, sondern auch, um handlungsfähig zu bleiben in einer globalisierten Zukunft.

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