Interview

«Der Helsinki-Effekt»: Wie ein vermeintlich langweiliges Treffen Europas Zukunft veränderte

von

Regisseur Franck erzählt in seinem Archivfilm «The Helsinki Effect» die Geschichte der KSZE-Schlussakte von 1975 – ein Ereignis, das damals kaum Beachtung fand, aber die politischen Machtverhältnisse in Europa nachhaltig prägte.

Herr Franck, was hat Sie persönlich dazu bewogen, einen Film über die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) von 1975 zu machen – ein Ereignis, das heute oft unterschätzt wird?
Im Herbst 2021 begann ich, nach Ideen für einen neuen Film zu suchen. Ich wollte ein Konzept verfolgen, bei dem kein einziger Drehtag nötig ist – also ein Film, der nur aus Archivmaterial besteht. Und das Fernsehereignis, das in der finnischen Geschichte am umfassendsten dokumentiert wurde, war meines Wissens die Schlussphase der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die im Sommer 1975 in Helsinki stattfand. Der Gedanke, einen Film über die KSZE zu machen, schien mir zunächst unglaublich langweilig – und gerade das empfand ich als spannende Herausforderung. Und... das war es auch.

Der Titel «The Helsinki Effect» verweist auf weitreichende Folgen, mit denen zunächst kaum jemand gerechnet hat. Was genau meinen Sie damit – und wann wurde Ihnen die Bedeutung bewusst?
Als ich mit dem Film begann, wusste ich selbst noch nicht, welche Bedeutung die KSZE und die sogenannte „Helsinki-Deklaration“ wirklich hatten. Doch durch die Lektüre mehrerer Bücher zu diesem Thema, über das ich einen Film machen wollte, erfuhr ich, dass dieser Prozess – die Entstehung der Konferenz und das Abkommen, das am Ende unterzeichnet wurde – eine bedeutende Rolle bei der positiven Entwicklung Europas spielte. Der Titel erschien mir daher passend, weil er den Wandel ankündigt, der daraus entstand.

Wie sind Sie bei Ihrer Recherche vorgegangen? Gab es Dokumente, Zeitzeugen oder Archivmaterial, das Sie besonders überrascht oder inspiriert hat?
Das Archivmaterial des finnischen Rundfunks YLE bildet das Rückgrat des Films, zusammen mit den inzwischen freigegebenen Protokollen des US-Außenministeriums. Ich habe sämtliches verfügbares Filmmaterial in Finnland gesichtet und Bücher gelesen, durch die ich auf die Protokolle aufmerksam wurde. Diese habe ich dann vollständig ausgewertet und die Geschichte darum herum aufgebaut. Besonders überrascht hat mich, dass es diese Protokolle überhaupt gibt – und dass ich wortwörtlich nachlesen konnte, was zwischen amerikanischen und sowjetischen Führern gesagt wurde, wenn sie sich trafen. So konnte ich zeigen, was an der Oberfläche geschah (das Bildmaterial), und zugleich, was hinter verschlossenen Türen passierte (die Protokolle). Das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Ebenen war eine große Inspiration und entscheidend für die Struktur des Films.

Die KSZE war ursprünglich ein sowjetisches Projekt, das dann dem Westen diplomatische Vorteile verschaffte. Wie erzählen Sie diese politische Ironie im Film?
Im Zentrum dieser Geschichte steht ein faszinierender Widerspruch: Henry Kissinger hasste die KSZE, ohne zu wissen, dass sie letztlich ein großer Sieg für den Westen war. Gleichzeitig war Breschnew ihr größter Verfechter – obwohl sich die Konferenz im Nachhinein als riesiger Fehler für die Sowjetunion erwies. Beide lagen also falsch, und genau das fand ich interessant. Auch Weltpolitiker sind nur Menschen, sie irren und machen Fehler – auch wenn sie sich gerne als unfehlbar und allwissend inszenieren.

Kissingers Haltung änderte sich drastisch – von Desinteresse zu Anerkennung. Wie greifen Sie diesen Perspektivwechsel im Film auf?
Im Film „spreche“ ich direkt mit Kissinger – ich stelle ihm Fragen, die er mit Zitaten aus den Protokollen und Passagen aus seinen Büchern „beantwortet“. In diesen „Antworten“ wird sein Meinungswandel zur KSZE deutlich – obwohl ich nicht glaube, dass er je offen zugegeben hat, sich geirrt zu haben. Wahrscheinlich hat ihn sein Ego vor Begriffen wie Demut oder Einsicht bewahrt.

Inwieweit lässt sich der «Helsinki-Effekt» auch als Wendepunkt im Kalten Krieg interpretieren – war er sogar der Anfang vom Ende des sowjetischen Machtblocks?
Diese Einschätzung stammt nicht von mir. Im Film beziehe ich mich auf Gedanken von Diplomaten, Historikern und Dissidenten aus dem Osten des Eisernen Vorhangs. Niemand – auch ich nicht – behauptet, dass der «Helsinki-Effekt» allein das Ende des Kalten Kriegs und des sozialistischen Totalitarismus in Europa bewirkt hat. Aber er spielte eine bedeutende Rolle, besonders für die Freiheitsbewegungen in Osteuropa. Der frühere US-Verteidigungsminister Robert Gates nannte die KSZE „den Anfang vom Ende der Sowjetunion“ – und basierend auf meinen Recherchen neige ich dazu, ihm zuzustimmen.

Der Film behandelt hochkomplexe geopolitische Zusammenhänge. Wie gelingt es Ihnen, diese filmisch zugänglich und spannend zu erzählen?
Das war die zentrale Herausforderung. Wir haben das Problem auf drei Arten gelöst:
1. Ich habe meine eigene Perspektive eingebracht – meine Neugier trieb die Erzählung an, nicht der Anspruch auf vollständige historische Objektivität.
2. Ich habe Humor auf allen Ebenen eingesetzt – das erlaubt einen ungewöhnlichen Zugang zur geopolitischen Geschichte.
3. Absolute Fokussierung auf den Kern der Erzählung – alles, was diesem nicht diente, wurde weggelassen, so interessant es auch war.

Was ist Ihre filmische Handschrift bei der Umsetzung? Arbeiten Sie mit Archivbildern, Interviews oder inszenierten Elementen?
Mein Ziel war es, aus einem scheinbar trockenen Thema einen unterhaltsamen, überraschenden und sogar witzigen Film zu machen. Der Zugang erfolgt über trockenen, satirischen Humor – das schien mir der richtige Ton für diese Figuren und die Wendungen der Geschichte. Visuell basiert der Film auf einem Montageschnitt aus Archivmaterial, ergänzt durch KI-stimulierte Szenen auf Basis der Protokolle. Eine wichtige erzählerische Idee war es, fiktive, aber faktenbasierte Telefonate mit Kissinger und Breschnew zu führen.

Welche Rolle spielt Finnland in Ihrer Erzählung – als Gastgeber, neutrales Terrain oder historischer Schauplatz?
Finnlands Ansatz im Kalten Krieg war Neutralität – und diese Konferenz war eine Möglichkeit, diese Neutralität zu präsentieren und daraus Nutzen zu ziehen. Vielleicht wäre die Konferenz ohne Finnland nie zustande gekommen – vielleicht aber doch, an einem anderen neutralen Ort mit ähnlichem Ergebnis. Für meinen Film war der finnische Blickwinkel entscheidend, weil ich so ein internationales Ereignis durch eine lokale Perspektive betrachten konnte.

Wenn Sie auf die heutige geopolitische Lage blicken: Können wir aus Helsinki noch etwas lernen, das sich heute anwenden lässt?
Putins Krieg gegen die Ukraine und Trumps erratische Außenpolitik haben alles verändert. Die regelbasierte Weltordnung stirbt – und das bringt Europa wieder in existentielle Gefahr. Diese Entwicklungen machen den Film auf tragische Weise aktueller – auch wenn ich mir das anders gewünscht hätte.

Es ist sinnlos zu glauben, man könne den Helsinki-Prozess einfach kopieren und so die Probleme der Welt lösen. Aber der Film zeigt, dass wir früher in der Lage waren, sehr komplexe Probleme durch Diplomatie zu lösen. Vielleicht kann diese Geschichte als Inspiration dienen – und uns den Mut geben, den diplomatischen Weg weiterzugehen.

Hatten Sie beim Erzählen dieser Geschichte auch ein junges Publikum im Blick, das vom Kalten Krieg kaum etwas weiß?
Absolut – ich hatte meine beiden Teenager-Söhne beim Machen des Films immer im Kopf. Ich habe mich gefragt: Kann ich eine Geschichte erzählen, die auch sie packt? Sie haben zumindest gesagt, dass ihnen der Film gefallen hat – das ist ja schon mal ein Anfang.

Danke für Ihre Zeit!

«Der Helsinki-Effekt» ist am 5. August um 22.00 Uhr bei arte zu sehen und ist bis 31. Januar 2026 in der Mediathek zu verfügbar.

Kurz-URL: qmde.de/163367
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