
Bereits der Titel der Sammlung verweist auf eine der stärksten Geschichten des Buches: „Der Fluch des Hasen“. Darin geht es um eine Familie, die Fluch-Talismane herstellt – kleine, verfluchte Objekte, die anderen Schaden zufügen sollen. Einer dieser Talismane, in Form eines Hasen, entwickelt ein unheimliches Eigenleben. Die Geschichte verknüpft übernatürliche Elemente mit der Idee von Schuld, Tradition und Rache und ist exemplarisch für Chungs Fähigkeit, das Surreale mit gesellschaftlichen Themen zu verweben.
Chungs Stil ist dabei stets nüchtern und präzise, selbst wenn das Grauen überhandnimmt. Sie beschreibt Brutalität und Absurdität mit einer Kälte, die die Leserschaft zutiefst erschüttert. Eine andere Geschichte, „Der Kopf“, beginnt scheinbar harmlos: Eine Frau findet eines Tages einen blutenden Kopf in ihrer Toilette. Was zunächst grotesk erscheint, entwickelt sich zu einer psychologischen Parabel über Schuld, Ausgrenzung und das Schweigen über traumatische Erfahrungen. Der Kopf wird zum Symbol eines verdrängten Leids, das sich nicht so einfach wegspülen lässt.
Ein zentrales Thema der Sammlung ist die Rolle der Frau in einer patriarchalen Gesellschaft. In „Gutes Futter“ beispielsweise bringt eine Frau ein Monster zur Welt – eine kafkaeske Metapher für gesellschaftliche Erwartungen an Mutterschaft, Körper und Weiblichkeit. In „Schönheitspflege“ wiederum verwandelt sich eine Schönheitsbehandlung in einen Albtraum – ein Kommentar zu Leistungsdruck, Schönheitsidealen und Selbstaufgabe.
Trotz ihrer Verankerung in koreanischer Kultur sind Chungs Geschichten universell lesbar. Die Albträume, die sie beschreibt, sind global: Missbrauch, Ausbeutung, Gier, Machtmissbrauch und Schweigen sind Themen, die überall auf der Welt verständlich sind. Dabei bleibt sie stets literarisch anspruchsvoll, verweigert einfache Auflösungen oder klassische „Moral von der Geschicht“-Enden. Vielmehr überlässt sie die Deutungshoheit der Leserschaft – ein Verdienst, der ihr internationale Anerkennung eingebracht hat.
Die englische Übersetzung von Anton Hur war 2022 für den International Booker Prize nominiert und machte das Buch auch außerhalb Südkoreas bekannt. Seitdem wird Chung oft mit Autoren wie Angela Carter, Shirley Jackson oder Han Kang verglichen – eine Autorin also, die das Unheimliche nutzt, um das Politische offenzulegen. „Der Fluch des Hasen“ ist ein literarisch beeindruckendes, tief verstörendes und intellektuell herausforderndes Buch. Wer sich auf die Geschichten einlässt, wird mit einer einzigartigen Mischung aus Horror, Mythologie und Gesellschaftskritik belohnt – und verlässt die Lektüre nicht unberührt.
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