Serientäter

«Kitz»

von

Lisis Bruder ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sein letzter Anruf klang verzweifelt. Darum war er unachtsam. Er kannte die Straßen und wusste um ihre Gefahren. Lisi will wissen, was ihren Bruder in den Tod getrieben hat und beginnt die Kitz zu umgarnen, Kinder reichen Städter, die einmal im Jahr in Kitzbühel abfeiern. In ihrem Kreis vermutet Lisi die Gründe für Josephs Tod.

Kitz

DARSTELLER: Sofie Eifertinger, Bless Amada, Valerie Huber, Zoran Pingel, Ben Felipe, Tyron Ricketts, Felix Mayr, Florence Kasumba, Krista Tcherneva, Souhaila Amade, Steffen Wink
REGIE: Maurice Hübner, Lea Becker
CREATORS und EXECUTIVE PRODUCERS: Vitus Reinbold, Niko Schulz-Dornburg, Mischa Hofmann (nur EP)
MUSIK: Heiko Maile
PRODUKTIONSDESIGN: Patrick Steve Müller
Die neue deutsche Netflix-Serie mag auf den ersten Blick ein jüngeres Publikum ansprechen. Die Protagonisten sind jung, schön, ältere Semester sind im besten Fall Staffage, Stichwortgeber. Doch der Schein trügt, denn hinter dieser schimmernden, funkelnden Kulisse verbirgt sich ein überraschend tiefgründiges, in seinen besten Momenten sogar trauriges Drama über den schönen Schein und das wahre Sein. Das ist zeitlos und spricht dann eben auch eine Zuschauerschaft jenseits des sogenannten Young Adult-Publikums an.

Die Welt der Kitz, so werden sie genannt, ist Kitzbühel. Jeden Winter fällt die Münchner Clique um die 19 Jahre alte Millionärstochter und Influencerin Vanessa in die Welt des Skiparadieses ein. Kitzbühel, das ist in der Inszenierung von «Kitz» ein Ort, der de facto zweimal existiert. Da ist dieses Postkartenidyll, eine Stadt, in der jedes Haus, jeder Winkel Brauchtum und Tradition ausatmen. Doch dieses Postkartenidyll ist nur eine Fassade, hinter der die Reichen und Schönen hemmungslos ihren Hedonismus ausleben. Sie verstecken ihre Hemmungslosigkeit, ihre Gier, ihre Zügellosigkeit hinter diesen Fassaden und machen sie für die Welt unsichtbar. Wo die Münchner Schickeria der 70er und 80er Jahre Genuss und den schönen Schein ganz offen zelebrierte und als einen Gegenentwurf zum biederen, restriktiven katholischen Konservatismus christsozialer Prägung feierte, haben sich ihre Kinder und Enkel aus den Augen der Öffentlichkeit in ihre eigene Welt zurückgezogen, wo sie aber eben nicht weniger hemmungslos ihren Trieben die Kontrolle über ihr Sein überlassen, wo sie aber eben nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen.

Auf der anderen Seite ist da das Kitzbühel der Einheimischen, die die Genusssucht, den Protz, die Überheblichkeit der Städter verachten, während sie jedoch gleichzeitig auf sie angewiesen sind. Sie bringen nicht nur Arbeit nach Kitzbühel, die haben Kitzbühel Wohlstand gebracht. Man lebt in einer lohnenden Abhängigkeit, also lässt man sie ihre Spielchen spielen und sorgt nicht nur dafür, dass sie sich hier wohlfühlen. Man sorgt auch dafür, dass nicht von dem nach Außen dringt.

Was in Kitzbühel geschieht, bleibt in Kitzbühel.

Das weiß auch Lisi, die hier aufgewachsen ist: als Teil der „Urbevölkerung“. Und so hat sie gelernt, dass man sich mit den Reichen und ihren Kitz nicht einlässt. Beide Welten bleiben für sich, man überschreitet die Grenzen nicht. Dafür machen es die Kitzbüheler den Münchnern schön, als Gegenleistung lassen diese viel Geld in der Gemeinde.

Doch Lisi ist fest entschlossen, diese Grenze zu überschreiten und von der ersten Minute an ist klar, warum sie das tut. Sie will wissen, was ihren Bruder Joseph in den Tod getrieben hat. Sein Tod war ein Unfall. Er ist viel zu schnell auf einer schneevereisten Bergstraße gerast. In einer Kurve hat er die Leitplanke durchbrochen und ist in den Tod gestürzt. All dies steht außer Frage. Jedoch gibt es eine Vorgeschichte. Joseph bewegte sich im Dunstkreis der 19 Jahre alten Vanessa, womit er bereits das ungeschriebene Gesetz, am Ende unter sich zu bleiben, gebrochen hat. Vanessa ist reich. Stinkreich. Das Geld arbeitet für sie. Daher kann sie sich ganz auf ihre Rolle als Influencerin konzentrieren. Was ein wunderbares Bild für den Irrsinn unserer Zeit widerspiegelt, denn dafür, dass sie (die Millionärstochter) in sozialen Netzwerken die stets im Luxus schwelgende, das Leben genießende Hedonistin gibt, verdient sie nicht nur ein kleines Taschengeld nebenbei: Sie verdient damit mehr Geld als Lisi mit ehrlicher Arbeit. Was sie dafür ihren Followern bietet? Einen Traum? Ein Trugbild? Einen schönen Schein?

Tatsächlich liegt darin eine Stärke der Serie. Vanessa, dargestellt von Valerie Huber, wirkt auf den ersten Blick oberflächlich und wenig sympathisch. Sie ist das Abbild eines verwöhnten Rich Kids. Aber stimmt das so? Je näher Lisi Vanessa kommt, desto komplexer, widersprüchlicher erscheint Vanessa. Dass sie etwa sehr wohl ihre Rolle hinterfragt, dass sie ihre Leben durchaus reflektiert, das lässt den emotionalen Eisblock, der um sie herum zu Beginn aufgebaut wird, mehr und mehr schmelzen. Das ist vielleicht nicht überraschend, es bedient durchaus gängige Darstellungsformen von Figuren à la Vanessa, die erst einmal als unsympathisch dargestellt werden, bevor die tatsächliche Charakterzeichnung beginnt. Die Figur gewinnt durch Valerie Hubers Spiel, durch die Widersprüche ihrer Figur, die sie oft in einer einzigen Szene fassbar macht, wodurch Vanessa Konturen erhält, die sie letztlich zum Zentrum der Serie machen: obwohl wir, die Zuschauer, die Welt der Kitz vorwiegend aus der Perspektive Lisis präsentiert bekommen, die sich nicht nur in die Clique Vanessas einschleicht, sondern – als die Fremde, Neue – ebenfalls (wie die Zuschauer) diese Welt erst einmal kennenlernen muss. Zwar hat sie als Kitzbühelerin einen gewissen Wissensvorsprung, aber sie ist eben kein integraler Bestandteil der Kitz-Welt.

Sofie Eifertinger ist diese Lisi, die sich in diese Welt einschleicht, da Vanessa (vermutlich) der letzte Mensch gewesen ist, der Kontakt zu Joseph hatte. Offenbar hat sie ihn emotional so stark verletzt, dass dieser alle Achtung und Vorsicht auf dem Weg nach Hause hinter sich gelassen hat – bis er die Kontrolle über seinen Wagen verlor. Auch Sofie Eifertinger legt ihre Lisi als durchaus widersprüchliche Figur an. Wirkt sie anfangs sympathisch (das nette Mädchen von nebenan), ist nicht zu verkennen, dass sie in den Monaten nach dem Tod ihres Bruder sehr lange in den Abgrund geschaut hat. Wie Nietzsche schon sagte: „Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“ Während es Lisi mit List, Tücke und Charme gelingt, sich Vanessa als Freundin anzudienen, hat sie die Rechnung ohne Vanessas intriganten und besten Freundin Pippa gemacht, die Lisi von Anfang an misstraut, im Gegensatz zu den anderen Mitgliedern von Vanessas Clique, die vor allem Lisis (vorgebliche) Dorfmädchenattitüde auf ihre Art und Weise bezaubernd finden. Dabei ist Lisi nicht die einzige, die die Hintergründe von Josephs Tod ergründen will. Auch ihr bester Freund Hans will dies. Der allerdings verliebt sich in den vollkommen exzentrischen Hotelerben Kosh, der wie kein anderer der Clique seinen Hedonismus offen zur Schau trägt. Ausgerechnet der oberflächliche, sexbesessene, dem Luxus verfallene Millionärssohn Kosh ist Hans' Ticket in seine ganz persönliche Freiheit, denn in der Welt, in der er, der Sohn eines Landwirtes, lebt, ist man(n) auch 2021 einfach nicht schwul. Punkt!

Dass ausgerechnet die Welt der reichen Kitz an diesem Punkt der Geschichte für tatsächlich gelebte Freiheit (des eigenen Seins) steht und damit für ein progressives Weltbild, während die vermeintlich gute Seite das eigene Ich unterdrückt, ist nicht frei von einer bösen Ironie in einer Geschichte, die unweigerlich in einer Tragödie enden muss – was kein Spoiler ist, sondern im Prolog der Serie bereits verraten wird. In diesem Prolog erzählt Lisi, dass sie doch nur die zur Rechenschaft ziehen wollte, die schuldig am Tod ihres Bruders sind. Soweit aber habe sie nicht gehen wollen, sagt sie – während wir, die Zuschauer, ein Haus in Flammen stehen sehen. Wie gesagt, so beginnt die Serie!



«Kitz» beschreitet keine neuen Wege, gewisse Parallelen zu einer Erfolgsserie wie «Élite» sind nicht zu übersehen. Aber die kompakte Inszenierung, die hervorragend herausgearbeiteten Figuren (zu der sich ab der zweiten Episode auch einige „erwachsene“ Charaktere gehören) und die sehr guten Hauptdarstellerinnen lassen die Zeit im Fluge vergehen.

«Kitz» ist seit 30. Dezember 2021 bei Netflix zu sehen.

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