Hingeschaut

«Dirty Little Secrets»: Ist die Musikbranche vollkommen verkommen?

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Der sonst so eingestaubte Bayerische Rundfunk hat ein neues Recherche-Format gestartet. Zum Auftakt knöpft man sich die Musikindustrie vor.

Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich in den vergangenen Jahren stark verändert. Die ARD und das ZDF haben sich von der Erzählstruktur stark an Netflix und Konsorten angepasst. Doch statt Dokumentationen mit heißer Luft aufzublasen, haben die Programmmacher auch Mut zur Abkürzung. Die Formate sind recht unterschiedlich: Ob «Panorama» im Ersten, das «ZDF Magazin Royale» im ZDF, «Atlas» bei funk oder eben «Dirty Little Secrets» in der ARD Mediathek: Informationen mit einer gehörigen Portion Ironie.

Während gerade bei Magazinen im privaten Fernsehen die Präsentatoren zu anonymen Ansagern degradiert werden, steht bei diesen Formaten der Moderator im Mittelpunkt. So dauert es auch keine Sekunde, ehe schon Julia Schweinberger den Zuschauer anspricht: „Hast du heute schon Musik gehört?“, ehe man gefragt wird, wie viel Musik noch über welches Angebot gehört wird. Als Rezipient ist man schon persönlich in die Sache eingebunden. Vier Redakteure sitzen in einem modernen Gebäude an tollen Schreibtischen – es sieht aus wie im Film. Doch schon nach wenigen Sekunden löst die Sprecherin auf, dass die Redaktion nur eine Kulisse für diese Dokumentation sei. Man habe – neben Julia auch Frederike Wipfler, Anne Brier und Lennart Bedford-Strohm – vorwiegend im weniger glamourösen Home-Office für diese Dokumentation gearbeitet.

Entstanden ist bei «Dirty Little Secrets» ein rund 95-minütiger Dokumentarfilm, den man für junge Zuschauer bestens in die Parts „Der geheime Deal mit den Labels“, „Die Geistermusiker“ und „Die verschwundene Firma“ dritteln konnte. Im Mittelpunkt der ersten zwei Folgen steht das schwedische Unternehmen Spotify, das – das ist nichts Neues – seine Musiker schlecht bezahlt. Zahlreiche Musiker konnte das Team gewinnen, das sich in Berlin zum Thema Vergütung ausspricht. Nur mehrere hundert Euro können deutsche Musikschaffende damit verdienen. Einen Lebensunterhalt mit Streamingdiensten kann keiner unterhalten.

Der ehemalige Booker und spätere Universal-Music-Chef Tim Renner, der auch zeitweise Berliner Staatssekretär für Kultur war, und auf eine gigantische Karriere zurückblicken kann, plaudert aus dem Nähkästchen. Seit den 80er Jahren ist er in der Musik beheimatet. Eigentlich wollte der Journalist nur ein Buch über die Skandale der Branche schreiben, doch er stellte erfolgreiche Weichen für den deutschen Markt. Er ist eiskalt und gibt auch zu: Die CD war für die Industrie das erste große Ding, nach den Tauschbörsen-Jahren prophezeite er mit einem legalen Angebot ein Wachstum. Das zeigt die Dokumentation auch: Die Labels Warner Music, Universal Music und Sony Music verdienen so gut wie noch nie.

Der zweite Teil beschäftigt sich mit Geistermusik, die auf zahlreichen Playlists erscheint. Kleine Labels produzieren für Spotify vor allem instrumentale Musik, die unter den üblichen Marktpreisen ausgezahlt wird. Dafür entstehen zahlreiche Fake-Profile, die Spotify sogar mit einem Echtheitszertifikat belohnt. Spotify-Germany-Sprecherin Conny Zhang (frisch gekürte Forbes 30 Under 30) teilte mit, dass der blaue Haken eigentlich nur aussage, dass die Musik nicht geklaut sei. Ging wohl auch nicht anders, beim Schummeln hat «Dirty Little Secrets» sie und ihr Unternehmen nämlich erwischt. Das ist schon alles sehr deprimierend, weshalb auch Erzählerin Jule das süffisant kommentiert.

Im dritten Teil der Musik-Reise bekommen es die Fernsehzuschauer mit Karten-Monopolist Eventim zu tun, der fast alle seine Konkurrenten aufkaufte und um den es eigentlich – sowohl bei Fußball als auch bei Musik – kein Vorbeikommen gibt. Das Unternehmen verdient bei zahlreichen Karten beispielsweise dreifach: Man betreibt eine Fan-Seite, auf der man überzählige Tickets an andere Fans weiterverkaufen kann.

Der interessanteste Part ist allerdings die Geschichte vom „Die Fantastischen Vier“-Plattenlabel Four Music, das an Eventim verkauft werden sollte. Als das Kartellamt den Deal untersagte, gründete die Kartenfirma einfach ein eigenes Label und schnappte sich zahlreiche Mitarbeiter, sodass Eventim nun ein gesamtes Ökosystem der Veranstaltungsbranche aufgebaut hat. Smudo wird selbstverständlich interviewt und ist stinksauer.

«Dirty Little Secrets» ist eine aufschlussreiche Dokumentation und widmet sich vor allem an die jungen Fernsehzuschauer, die wohl kein Abonnement einer überregionalen Tageszeitung haben. Die Themen, die hier angesprochen werden, sind nicht unbedingt neu, aber das Zielpublikum hat sich mit solchen Themen wohl noch nicht auseinandergesetzt. Kurze Einspielfilme, beispielsweise was ein Label macht, runden das Werk ab. Man könnte durchaus kritisieren, warum der Bayerische Rundfunk diese Dokumentation herstellte, obwohl der Neuigkeitswert gering ist. Allerdings gibt es auch noch junge Frauen, die tatsächlich glauben, sie könnten mit «Germany’s Next Topmodel» eine Karriere als Model starten. Insofern hat die Dokumentationsreihe ihre Daseinsberechtigung und ist dementsprechend zu empfehlen.

«Dirty Little Secrets» ist in der ARD Mediathek streambar.

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