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Viele Zielgruppen, null Kohärenz

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Auch ProSiebenSat.1 verabschiedet sich von der Referenz der 14- bis 49-Jährigen, künftig verzichtet man auf Vergleichbarkeit. Damit wird bald wohl jede Sendung zum Gewinner ihrer eigenen Zielgruppe. Warum die Neuerungen auch Chancen bieten...

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Im August 2012 dann, als RTL sich von alten Referenzzielgruppe verabschiedete, folgte die konkrete Prognose bei Quotenmeter.de: „Mit IP Deutschland verabschiedet sich wohl nur der erste Vermarkter von der bis jetzt bestehenden Referenzzielgruppe. Realistisch ist, dass andere folgen werden – aber nicht, um eine neue Referenz der 20- bis 59-Jährigen zu bilden, wie RTL es offensichtlich will, sondern um eigene Zielgruppen für ihren Sender auszugeben.“ Genau diese zehn Monate alte Prognose ist nun eingetreten – und damit auch eine Herausforderung für Außenstehende: Denn mit der Einheitlichkeit der 14- bis 49-Jährigen ist, zumindest von Senderseite, bald Schluss. Künftig werden Pressemeldungen wohl noch euphorisierender kommuniziert, bald wird es für die Sender keine Quotenverlierer mehr geben, sondern nur noch Gewinner. Ähnlich also, wie Politiker ihre Wahlergebnisse solange gut verkaufen, bis es gar nicht mehr anders geht.

Die Herausforderung, mit der neuen Situation umzugehen, liegt nun bei den unabhängigen Berichterstattern: bei Medienmagazinen, Zeitungen, Zeitschriften, bei der Presse. Denn sie müssen künftig in Eigenregie recherchieren, können noch weniger auf die Veröffentlichungen und Statements der Sendergruppen hören. Denn zwecks Vergleichbarkeit braucht es unbedingt eine einheitliche Zielgruppe für die Medien – und ProSiebenSat.1 betont, dass die Gruppen der 14- bis 49-Jährigen sowie der 14- bis 59-Jährigen für alle Sender weiterhin gemessen wird und bei den Quotenmessern von Media Control abgerufen werden kann, auch wenn sie für die Sender selbst keine Bedeutung mehr haben. Theoretisch aber bleibt die Vergleichbarkeit so erhalten.

Dies wird Konflikte schaffen und neue Probleme, beispielsweise wenn Sender ihren großen Neustart als Erfolg ansehen, die berichterstattenden Medien im übergreifenden Quotenvergleich aber nicht. Trotzdem werden Journalisten die neudefinierten, diversen Zielgruppen der Privatsender nicht übergehen können – schließlich werden die Macher ihr TV-Programm künftig noch stärker gemäß der eigenen Kernzielgruppe entwickeln und kaum noch darauf achten, ob es eventuell auch die Gruppe der 14- bis 49-Jährigen ansprechen könnte. Kurz: Eine Beurteilung, ob eine Sendung Erfolg oder Misserfolg ist, wird künftig deutlich schwerer und differenzierter fallen.

Die mögliche neue Ära im Fernsehgeschäft wird aber auch Vorteile mit sich bringen: zunächst ebenfalls in der Berichterstattung, da nun mehr Datenmaterial, mehr Quoten vorliegen, die interessierten Lesern präsentiert werden können. Der Otto-Normalzuschauer darf sich vielleicht auf Sendungen freuen, die noch mehr auf seine Interessen zugeschnitten sind – künftig auch bei den „großen“ Privatsendern, von denen sich einige allmählich zu inhaltlichen Spartensendern entwickeln dürften. Beispielsweise ProSieben, das sich durch die Abkehr von den 14- bis 49-Jährigen nun konsequent dem ganz jungen Publikum verschreiben kann, wie man es schon immer wollte. Vor allem die älteren Zuschauer werden von Privatsendern nicht mehr konsequent ignoriert, sondern dürfen sich auf zusätzliche Angebote freuen – Sat.1 Gold wird hier nur Vorreiter sein.

Und schließlich birgt die Abkehr von der Referenzzielgruppe eine riesige Chance für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk: Nachdem er sich jahrelang hektisch hat treiben lassen vom Dogma der jungen Zielgruppe und den vermeintlichen Trends des Privatfernsehens, sollte er nun in Ruhe analysieren. Und sich fragen, ob er sich überhaupt noch an einer jungen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen orientieren will. Zumindest sollte nun ihre Relevanz schwinden: Zu viele schlechte, bemüht junge TV-Formate haben die öffentlich-rechtlichen Zuschauer in den vergangenen Jahren über sich ergehen lassen müssen, zu oft hat man versucht, einem jungen Publikum gerecht zu werden.

Nun ist die Chance gekommen, einen kleinen Neuanfang in der Programmgestaltung zu wagen: weniger krampfhaft auf irgendwelche Zielgruppen zu schauen, sondern vor allem auf das Gesamtpublikum. Wo im Privatfernsehen immer mehr Sender ein immer spezielleres Publikum bedienen, können ARD und ZDF den gegenteiligen Weg gehen. Und sich an Inhalten versuchen, bei denen nicht immer auf die Quote geschaut werden muss. Bei denen vielleicht nicht viele Menschen erreicht werden, dafür aber aus vielen Altersgruppen. Ein Programm also, das jedem gefällt, zumindest ein bisschen. Fast so, als wäre 1984 nicht passiert…

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