Die Kino-Kritiker

«Orion und das Dunkel»: Taschentücher nicht vergessen

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Der kleine Orion ist ein echter Schisser. Bienen, Klospülungen, Mädchen: Der Junge hat wirklich vor allem Angst. Besonders aber die Dunkelheit kann er so gar nicht leiden. So sehr, dass die Dunkelheit irgendwann die Nase von seinen Anklagen voll hat und persönlich vor ihm steht!

Orion und das Dunkel

  • USA / Frankreich 2023
  • GENRE: Fantasy / Animation
  • REGIE: Sean Charmatz
  • DREHBUCH: Charlie Kaufman
  • PRODUZENT: Peter McCown
  • SCHNITT: Kevin Sukho Lee
  • MUSIK: Robert Lydecker, Kevin Lax
  • US-STIMMEN: Jacob Tremblay, Colin Hanks, Angela Bassett, Nat Faxon, Carla Gugino, Ren Hanammi
Netflix und die einst von Steven Spielberg gegründete Animationsschmiede Dreamworks sind einander keine Unbekannten. Dreamworks hat in den letzten Jahren einige Animationsserien für Netflix in Szene gesetzt. Das Studio, das Blockbuster wie die Shrek- und Kung Fu Panda-Reihen aufs Publikum losgelassen hat, ist bislang aber nicht als Spielfilmproduzent im Auftrage des Streamers in Erscheinung getreten. Bis jetzt, um genau zu sein, denn Orion und das Dunkel stellt diesbezüglich eine Premiere dar!

Orion ist also ein kleiner Junge irgendwo in einer amerikanischen Vorstadt. Die Einrichtung seines Zimmers mit klobigem Computerbildschirm sowie die Abwesenheit von Smartphones aller Art lässt darauf schließen, dass wir uns in den 1990er Jahren befinden. Orion ist intelligent, vor allem beherrscht er die äußerst erwachsene Fähigkeit der Selbstreflexion. Eine Fähigkeit, die er leider vor allem dafür einsetzt, all die Gefahren, von denen er glaubt, dass sie eintreten können, für sich zu erklären. Nicht, um seine Ängste zu überwinden – sondern vielmehr, um sie zu manifestieren. Wenn er die Schultoilette nutzt, hat er Angst, dass das Wasser überlaufen und die ganze Schule zerstören könnte. Steht ein Schulausflug an, könnte es ja zu einem Unfall kommen und der Bus in Flammen aufgehen. Dass ihn dann auch noch das Mädchen anspricht, in das er heimlich verliebt ist, ist eine Katastrophe.

Über all seinen Ängsten aber steht die Dunkelheit. Wozu braucht es eigentlich diese verdammte Dunkelheit? Irgendwie schafft es Orion immer wieder, seine Eltern dazu zu bewegen, ihm seine Ängste zu lassen (natürlich machen sie sich Sorgen, aber Orion ist schlau, er weiß sehr wohl, wie er seine Eltern zu fassen bekommt). Also bleibt das Licht an, die Tür einen Spalt offen, all diese Dinge eben. Bis zu jenem Abend, an dem der Blitz einschlägt, sämtliche Nachtlichter ihren Geist aufgeben und sogar die Not-Taschenlampe ihren Dienst versagt. In seiner Wut verflucht Orion die Dunkelheit als einen miesen Wicht – was das Fass zum Überlaufen bringt, denn plötzlich steht er da. Er ist die Dunkelheit, ein breiter, in einen schwarzen Umhang gehüllter Kerl, der sich selbst als mystisches Wesen bezeichnet und für nichts anderes als, genau, die Dunkelheit die Verantwortung trägt. Ja, das ist sein Job, er erfüllt damit seit Äonen eine wichtige Aufgabe im Universum und er macht das auch sehr gut. Aber wird er dafür etwa geschätzt? Okay, er hat gelernt, mit all den Vorurteilen umzugehen, die ihn betreffen, Orion jedoch hat es mit seinem Gejaule schlichtweg übertrieben. Selbst ein mystisches Wesen wie die Dunkelheit hat eine Grenze, die bitte nicht überschritten werden sollte. Aus diesem Grund bleibt der Dunkelheit nichts anderes übrig – als Orion mit auf die Reise zu nehmen. Eine Nacht wird er mit der Dunkelheit die Welt umrunden und diese wird ihm beweisen, dass es nichts gibt, wovor er sich fürchten muss.

Orion und das Dunkel basiert auf einem Kinderbuch der aus dem Vereinigten Königreich stammenden Illustratorin Emma Yarlett. Obwohl die Vorlage ein Buch für kleine Kinder sein mag, ist «Orion und das Dunkel» ein Familien- und kein Kinderfilm. Dank eines Drehbuchs von Oscar-Preisträger Charlie Kaufman, der 1999 den Arthaus-Hit «Being John Malkovich» aufs Publikum mit Regisseur Spike Jonez losgelassen hat und den besagten Oscar für das Drama «Eternal Sunshine of the Spotless Mind» 2008 erhielt. Der hat sich der Geschichte angenommen und nicht nur mit allerlei Irrwitz gefüllt, sondern es auf eine vollkommen brillante Art und Weise sogar geschafft, Werner Herzog in dem Film unterzubringen. Das muss man wollen – und solch eine Verrücktheit versteht ein Kind nun wirklich nicht.

Die Dunkelheit nimmt Orion also mit auf seine Tour und stellt ihn erst einmal den anderen mystischen Wesen vor. Den Schlaf zum Beispiel, das unerklärliche Geräusch oder den Traum. Sie alle sorgen dafür, dass die Menschen schlafen können, oder um ihren Schlaf gebracht werden. Je nachdem. Man trifft sich zu Kaffeepausen – und während einer solchen ist man nicht davon begeistert, dass die Dunkelheit für diese Nacht einen Begleiter mit auf die Reise genommen hat. Das ist gegen die Gesetze, das widerspricht ihren Regeln und natürlich bleibt es in dieser Nacht nicht bei einer Reise. Natürlich kommt etwas dazwischen – und bald schon spielen die Gesetze verrückt. Das mag wenig überraschend kommen, gleichzeitig aber bricht Kaufman mittendrin die Geschichte ab, um … nein, keine Spoiler, aber die Geschichte von Orion ist nicht das, was wir glauben, das sie ist.

Was die Geschichte auf jeden Fall ist: herzlich. Orion ist ein netter Junge und es fällt Kindern mit Sicherheit leicht, sich mit ihm (und seinen Macken) zu identifizieren. Die Dunkelheit ist derweil der eigentliche Star des Filmes. Als mystisches Wesen, das einfach nur in Ruhe seinen Job ausüben will, fühlt man dennoch seinen Frust ob des schlechten Rufes, mit dem er sich (ungerechtfertigterweise) herumärgern muss. Dass das Tageslicht auch noch ein ziemlicher Fatzke ist, der seine eigene Arbeit einfach am großartigsten findet, überrascht nicht. Das Sonnenlicht ist ja kein Außenseiter. Die aber sind es, denen die Sympathien gehören.

Frei von Kritik ist der Film nicht. Die Ursprünge der Geschichte in einem Kinderbuch sind leider doch irgendwann spürbar und Charlie Kaufmans Adaption muss ein paar Tricks anwenden, um Spielzeit zu dehnen. Die Animationen indes wirken zwischendurch immer wieder einmal schlicht. So schwankt die Qualität zwischen Dreamworks-Kinoware (etwa in den Sequenzen, in den die Dunkelheit und Orion gemeinsam fliegen) – und Sequenzen, die offenbar noch einen Feinschliff benötigt hätten: Das erste Zusammentreffen von Orion mit den anderen mystischen Wesen fällt in diese Kategorie, die Figuren wirken hier immer wieder recht zweidimensional animiert. Da Netflix und Dreamworks erst im Juni 2023 das Projekt bekannt gaben (ein halbes Jahr vor seinem Erscheinen) darf davon ausgegangen werden, dass der Film ursprünglich fürs Kino konzipiert worden ist, bevor er mit dem roten Netflix-N verziert wurde.



Unterm Strich ist «Orion und das Dunkel» trotz einiger Schwächen ein fantasievoller, humorvoller Fantasytrip, der seine Herkunft im Kinderbuch nicht ganz verbergen kann, aber genügend Ideen liefert, um als Familienfilm zu bestehen. Darüber hinaus bietet er ein solch rührendes Ende, das es sich anbietet, Taschentücher zwischen dem Knabberkram zu positionieren.

«Orion und das Dunkel» ist bei Netflix verfügbar.

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