Die Kritiker

Von U-Bahnen und Retortenkindern: «Tatort – Dein Name sei Harbinger»

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Der neuste Berliner «Tatort» ist gut inszeniert und gekonnt gespielt, doch wer hätte gedacht, dass im Jahr 2017 künstliche Befruchtung noch immer als Streitthema herhält?

Cast und Crew

  • Regie: Florian Baxmeyer
  • Drehbuch: Michael Comtesse, Matthias Tuchmann
  • Darsteller: Meret Becker, Mark Waschke, Christoph Bach, Carolyn Genzkow, Trystan Pütter, Almut Zilcher, Eleonore Weisgerber, Luise Aschenbrenner, Maryam Zaree
  • Kamera: Eva Katharina Bühler
  • Schnitt: Friederike Weymar
  • Musik: Jakob Grunert
Es ist der mittlerweile sechste Fall für Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke), und wie schon in ihren früheren Einsätzen gehen die Berliner Kriminalhauptkommissare einem besonders grausamen Mord nach. Das weckt bereits ironische Sprüche von der angewiderten Spurensicherung. Doch abseits dessen herrscht im neuen Berliner «Tatort» Ernsthaftigkeit vor – sowie die Fokussierung auf den eigentlichen Fall und die ethischen Fragen, die er aufwirft. Der private Stress von Nina Robin, der in mehreren früheren Krimis aus der Bundeshauptstadt noch einen wichtigen Handlungsnebenstrang bildete, wird hier fast komplett beiseite geschoben.

Ermittelt wird nach dem Fund einer verbrannten Leiche vor allem in eine Richtung: Der zentrale Verdächtige ist der einzelgängerische Schlüsseldienstler Harbinger (Christoph Bach), der mit bürgerlichem Namen eigentlich Werner Lothar hieß und in seiner Jugend ein Bombenattentat auf Irene Wohlleben (Almut Zilcher) verübt hat. Diese leitete einst die Kinderwunschklinik, in der eines der ersten Retortenbabys Deutschlands zur Welt kam. Nun leitet ihr Sohn Dr. Stefan Wohlleben (Trystan Pütter) die Klinik – selber ein Retortenkind, genauso wie das Opfer, mit dem dieser Film begann …

Anders als etwa der kommende Woche anstehende Norddeutschland-«Tatort», der davon handelt, dass eine Morddrohung auf das Oberhaupt einer rechtspopulistischen Partei dafür sorgt, dass sich Wotan Wilke Möhrings linker Polizist Falke gezwungen sieht, dem politischen Feind Schutz zu geben, nimmt dieser «Tatort» kein aktuelles, moralisches Dilemma auf. Die Drehbuchautoren Michael Comtesse und Matthias Tuchmann entführen in ihrem Skript in die enge, verzweigte (wortwörtliche) Berliner Unterwelt der U-Bahn-Stationen und -Schächte, und sie stellen narrativ parallelen zu der Welt der künstlichen Befruchtung her: Sie streuen Zweifel über die Moralität dessen, dass Menschen "Gott spielen" und Frauen zu Müttern machen, die sonst nicht Mutter werden können.

Die Dialogpassagen in diesem «Tatort» haben den Duktus eines "Problem-«Tatorts»", eines von Schlagzeilen inspirierten Neunzigminüters, der eine gesellschaftlich brennende Frage aufnimmt und das Für und Wider in einer aktuellen Debatte aufnimmt. Florian Baxmeyer, erfahrener «Tatort»-Regisseur mit starkem, cineastischen Auge, erhöht diese Wirkung, indem er die Einblicke in den "Subkosmos künstliche Befruchtung" so inszeniert, dass einige entscheidende Personen aus ihr höchst suspekt wirken. Wenn Dr. Stefan Wohlleben in seinem Büro ein Magazin ausstellt, auf dem er, seine Mutter und ihre Lebensgefährtin zu sehen sind, agiert Trystan Pütter so überfreundlich und wird von den Kommissaren derart verdattert angeblickt, dass genauso gut am unteren Bildrand die Frage eingeblendet werden könnte: "Wollen Sie wirklich so jemandem vertrauen?"

Der Ansatz, in einem deutschen Fernsehkrimi des Jahres 2017 aus Reproduktionsmedizin mit aller Macht ein kontroverses Thema zu formen, ist ein verflixt anachronistischer – das würde in einem in den 80ern angesiedelten «Tatort» funktionieren, im Heute ist die Debatte dagegen vollkommen erloschen. Das nimmt dem «Tatort» über längere Passagen hinweg ein gutes Stück seiner Brenzligkeit, werden seine vermeintlich schwer zu lösenden ethischen Fragen doch schon länger mit einem gesellschaftlichen Schulternzucken begrüßt. Gewiss: Mit einem späteren Twist versucht der Krimi, noch einmal klar zu machen, dass keine ganze Branche verteufelt wird – dennoch bleibt aufgrund des missglückten Timings dieser Beigeschmack über, dass eben doch die ganze Retortenmedizin als suspekt dargestellt werden soll.

An der inszenatorisch-handwerklichen Stärke des Films rüttelt das aber selbstredend nicht: Baxmeyer fängt den Trubel von Großstadt-U-Bahnen (nicht nur der Berliner) gekonnt ein, wechselt alltägliche, belebte, gut ausgeleuchtete Situationen mit ungepflegten, gräulich-giftgrünlich schimmernden, unheimlichen Winkeln ab und streut ganz nebensächlich Skurrilitäten des Nahverkehrpendelalltags ein. Durch die dynamische, trotzdem Klaustrophobie vermittelnde Kameraarbeit von Eva Katharina Bühler und akzentuierten Szenenübergängen (Schnitt: Friederike Weymar) wird «Tatort – Dein Name sei Harbinger» zu einem lebendigen, atmosphärischen «Tatort» mit stilistischem Charakter.

Während Becker und Waschke vor diesem Hintergrund in routiniert-überzeugender Weise agieren, sticht die frisch gebackene Kommissaranwärterin Anna Feil hervor: Die ehrgeizige, doch unerfahrene Ermittlerin ist auf persönlicher Ebene in den Fall involviert, und so bekommt Darstellerin Carolyn Genzkow die Möglichkeit, ein facettenreiches Spiel abzugeben. Star des Films ist indes Christoph Bach als sonderbarer, einschüchternder Einzelgänger – Bach erweckt durchweg Misstrauen, und schafft es trotzdem, genügend kleine, freundliche Momente in seine Darbietung einzubauen, dass die Figur glaubwürdig erscheint. Ähnlich angelegte «Tatort»-Schurken lassen ja oft genug die Frage aufkommen: "Wieso rennt nicht jeder schreiend vor ihm davon?"

Fazit: Visuell bemerkenswert und mit durchaus spannend konstruierter Erzählung, doch die grundlegende Prämisse lässt diesen Neunzigminüter zwischendurch vor sich hin humpeln.

«Tatort – Dein Name sei Harbinger» ist am 10. Dezember 2017 ab 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.

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