Ich war zuallererst schockiert und bewegt. Denn mir erschien diese Zahl enorm hoch: 113 Personen?! Hätte ich schätzen müssen, wäre ich nicht mal annähernd auf eine solch hohe Zahl gekommen. Aber, und so funktioniert mein Autorengehirn leider auch, war mir sofort klar, dass dieser große Kreis an betroffenen Personen ein enormes erzählerisches und dramaturgisches Potenzial birgt. Ein Ereignis - multiple Schicksale. Alle voneinander unabhängig, einzig durch die Katastrophe in Beziehung zueinander. Damit präsentierte sich quasi sofort eine sehr ungewöhnliche und spannende Erzählmechanik, der zudem eine tiefe Überzeugung von mir innewohnt: „Wir sind alle miteinander verbunden."
Die Serie «Hundertdreizehn» erzählt sehr komplex, auf mehreren Ebenen, und setzt auf eine „radiale Dramaturgie“. Können Sie erklären, was genau darunter zu verstehen ist und warum Sie sich für diese Form entschieden haben?
Das Konzept „Eine Tragödie verbindet unterschiedlichste Menschen und Leben“ war für mich – wie zuvor beschrieben – der erzählerische Ausgangspunkt dieser Serie. Wenn der Unfall das verbindende Element für alle Folgen ist und jede Folge sich auf ein einzelnes Schicksal konzentriert, wurde mir schnell klar, dass ich für diese Serie ein neues, radiales Erzählmodell entwickeln müsste.
Der normale lineare Ansatz, bei dem ein Ereignis auf das andere folgt, konnte hier nicht funktionieren, da jede Geschichte ja eine eigene Zeitlinie hat. Der Unfall bildet also den Mittelpunkt eines Kreises, an dem sich die Stränge der Folgen kreuzen, beginnen oder enden. So wird der Unfall nicht nur zum zentralen Element jeder Geschichte, sondern zum Zentrum der gesamten Serie, um das alles im wahrsten Sinne des Wortes kreist.
Im Zentrum steht die Frage nach Schuld und Verantwortung. Wie sind Sie beim Schreiben damit umgegangen, diese abstrakten Begriffe in konkrete Figurenkonflikte zu übersetzen?
Wenn man mit so großen Themen wie Schuld, Sühne, Tod, Vergebung, Abschied und Neuanfang operiert und deren Tragweite und Wucht dem Zuschauer emotional nachvollziehbar präsentieren will, braucht man sehr genau austarierte Figuren- und Handlungskonstellationen. Der moralische Konflikt, die Trauer und der Schmerz müssen sehr schnell und klar – dabei einfühlsam und emotional nachvollziehbar – erzählt werden. Jede Szene habe ich immer wieder der Frage unterworfen, ob sie bestmöglich diesem Ziel dient. Bei der notwendigen erzählerischen Dichte, die man braucht, um solche Themen nicht nur oberflächlich anzureißen, hat man schlicht keine Zeit für erzählerische Umwege oder Ausflüge.
Zudem habe ich versucht, diese großen Themen auf kleine Momente, Sekundenentscheidungen herunterzubrechen, die für den Zuschauer greifbar sind und einen fragen lassen: „Was hätte ich in dieser Situation getan?“ Wenn man das mit Figuren kombiniert, die klar in der Realität verwurzelt sind, schafft man zumindest die Voraussetzungen für etwas authentisch Bewegendes.
Jede Episode beleuchtet ein anderes Schicksal, zugleich gibt es durchgehende Figuren wie Ermittler oder Angehörige. Wie schwierig war es, diese Balance zwischen Einzel- und Gesamtgeschichten herzustellen?
Wenn wir, wie anfangs erwähnt, den Unfall als dramaturgischen Bezugspunkt für alle Folgen wählen – wenn diese dort immer wieder beginnen, sich kreuzen oder sogar enden sollen – war schnell klar, dass wir uns nicht linear in der Zeit bewegen können.
Wir springen pro Folge ja wieder mindestens bis zum Unfall zurück, in einer Geschichte sogar bis 20 Jahre vor dem Unfall. Das und die Tatsache, dass in jeder Folge – im Gegensatz zu anderen Serien und zu Seriensehgewohnheiten – die Figuren, bis auf wenige Ausnahmen, nur in ihrer jeweiligen Folge auftauchen, ist nicht nur eine Herausforderung für den Autor, sondern auch für die Zuschauer.
Es brauchte also ein verbindendes Element, etwas, das die Folgen linear einbettet. Die Frage „Warum ist das passiert?“ bot sich an. Damit war auch klar, dass es Dinge zu entdecken geben muss (das Familiengeheimnis des Busfahrers, die wirklichen Ereignisse an Bord des Busses), jemanden, der sie entdecken will (die Ermittler), und jemanden, den dieses Geheimnis emotional bewegt (die Familie). Durch die Kombination von radialer und linearer Erzählung haben wir – ich hoffe es zumindest – etwas sehr Besonderes kreiert.
Die Serie zeigt eine große Bandbreite an Themen – von einer queeren Hochzeit bis zu Alzheimer-Erkrankung. Nach welchen Kriterien haben Sie die Schicksale ausgewählt?
Es mag sich etwas schwülstig anhören, aber oft wählen diese Geschichten und Schicksale mich aus. Ich gehe oft von einem einzelnen Bild aus, das mir in den Sinn kommt. So zum Beispiel eine junge Frau im Brautkleid, die auf der Rückbank des ausgebrannten Busses sitzt. Wer ist das? Wie kommt sie dahin? Warum hat sie ihre eigene Hochzeit scheinbar fluchtartig verlassen?
Oder der alte Mann, der am Fenster steht und den Unfall beobachtet. Was wäre das Schlimmste für ihn, was passieren könnte? Was, wenn dieser Unfall zutage trüge, dass sein gewohntes Leben zerbricht, weil er seinen Erinnerungen nicht mehr trauen kann?
Wenn man diesen Fragen ohne innere Sorge vor den Konsequenzen für die Figuren nachgeht, gräbt man viele Schätze aus. Zumal wenn man damit auch die Chance hat, die eine große Wahrheit zu erzählen, die jedem Unfall und jeder Katastrophe innewohnt: Das Schicksal macht nun mal vor keinem Halt. Es macht keinen Unterschied, wie jung oder alt wir sind, wie reich oder arm, wen wir hassen oder lieben. Es kann jeden von uns jederzeit treffen – und das ist ein Gedanke, der ehrfürchtig macht, aber auch etwas Heilsames in sich trägt.
Welche Figur oder Episode war für Sie persönlich beim Schreiben am schwierigsten, vielleicht auch emotional am intensivsten?
Der bereits erwähnte alzheimerkranke Richard Born aus Folge 2, der so phänomenal von Armin Rhode gespielt wird, war schon eine besondere Figur. Da zu der Zeit, als diese Figur entstand, das Thema Demenz in meiner Familie ganz nah heranrückte, gibt es viele Momente, die mich erst beim Schreiben, später am Set und schließlich in der fertigen Folge sehr berührten und es bis zum heutigen Tage tun.
Mit am anspruchsvollsten war sicher die Figur der Clara Eweleit aus Folge 4, die von Friederike Becht mit ungeheurer Wucht verkörpert wird. Diese Figur muss direkt am Anfang eine moralisch schwerwiegende Entscheidung treffen, und die Gefahr bestand, dass man die Figur Clara vielleicht verlieren, sie gar ablehnen würde. Aber durch Friederikes enorm genaues, bewegendes Spiel und die präzise Regie von Rick Ostermann hat sich diese Sorge zum Glück als unbegründet erwiesen.
«Hundertdreizehn» wagt erzählerisch einiges: Zeitsprünge, unterschiedliche Perspektiven, fragmentarische Erzählungen. Hatten Sie Sorge, das Publikum könnte überfordert werden?
Wenn ich schreibe, bin ich immer der erste Zuschauer meiner Geschichten – ein ziemlich kritischer, allemal. Und ich mag es, wenn ich ernst genommen werde; wenn ich das Gefühl habe, dass man mir zutraut, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und mir das Leben so bunt, verrückt und manchmal auch absurd präsentiert, wie es nun einmal ist.
Das entbindet einen natürlich nicht von der Verantwortung, dramaturgisch sauber und nachvollziehbar zu erzählen, aber man sollte sich nie scheuen, bekannte Wege zu verlassen und abseits nach Neuem zu forschen. Zudem hat das Publikum in den letzten Jahren und Jahrzehnten so enorm dichte und komplexe Stoffe erzählt bekommen und angenommen, dass ich guter Dinge bin, auch mit der besonderen Erzählweise von „Hundertdreizehn“ die Herzen und Hirne zu erreichen.
Sie sprechen davon, dass der Unfall nicht nur ein Ereignis, sondern fast eine „eigene Figur“ ist. Wie haben Sie beim Schreiben dafür gesorgt, dass dieser Ort eine solche emotionale Kraft entfaltet?
Es ist eine Sache, als Autor diesen Unfall dramaturgisch so stark wie möglich aufzuladen und die Ereignisse um und an diesem Schicksalsort so emotional wie möglich zu entwerfen – dass sie sich dann aber auch wirklich so erzählen, ist in erster Linie der Verdienst von Rick Ostermann, unserem phänomenalen DOP Ralph Kaechele, der Szenenbildabteilung um Katrin Huber und Gerhard Dohr und nicht zuletzt der Produktionsfirmen Windlight Pictures und Satel Film, die dieses spektakuläre Set überhaupt erst möglich und dann auch noch so emotional erfahrbar gemacht haben.
Die Zusammenarbeit mit Regisseur Rick Ostermann war sehr eng. Inwiefern hat sich seine filmische Handschrift auf Ihre Drehbücher ausgewirkt?
Die Zusammenarbeit mit Rick war von Anfang bis Ende ein absoluter Glücksfall. Seine präzise, enorm vielschichtige, zutiefst menschliche und den Stoff immer ernstnehmende Art, Regie zu führen, war das Beste, was «Hundertdreizehn» passieren konnte. Zudem gelingt es Rick, zu jedem Zeitpunkt am Set eine so konzentrierte und gleichzeitig gelöste Stimmung zu erzeugen, die jedem im Team – den Schauspieler:innen vorneweg – die Sicherheit gibt, enorme Dinge zu leisten. Davon jeden Tag ein Teil sein zu dürfen, war für mich eine einmalige Erfahrung.
Serien mit solch ernsten Themen bergen die Gefahr, sehr düster zu wirken. Gleichzeitig betonen Sie, dass «Hundertdreizehn» auch von Hoffnung handelt. Wie haben Sie diese Balance im Drehbuch hergestellt?
Uns war klar, dass wir – bei all der Gravität, die unsere Geschichten im Gepäck haben – dem Zuschauer auch immer etwas mitgeben müssen, das Hoffnung macht. Es war aber ebenso klar, dass dies nicht die klassischen Happy Ends sein konnten, die allen Schmerz einfach eliminieren und korrigieren. Damit würde man sich der Realität des Verlustes, des Sterbens und des Abschieds, die solche Schicksalsschläge nun einmal mit sich bringen, verweigern.
Ohne hier ins Detail gehen zu können – weil das schon zu viel verraten würde – habe ich in jeder der Geschichten nach den Dingen gesucht, die vielleicht einen neuen Anfang markieren: die eine neue Lebensbahn dort öffnen, wo eine alte endet, die Aufbruch und nicht Stillstand sind. Das sind zum Teil kleine Lichtblicke, kleine Ausblicke auf etwas Tröstendes, zum Teil aber auch enorme Lebensveränderungen hin zu etwas Besserem.
Die Serie wurde in Berlin, Nordrhein-Westfalen und Wien gedreht. Wie wichtig war Ihnen die Verankerung an realen, wiedererkennbaren Orten?
Ehrlich gesagt wollte ich, dass man möglichst wenig von den realen Orten erkennt. Mir war zwar ein genau recherchierter Naturalismus und realistische, lebensnahe Figuren sehr wichtig, aber ich wollte die Ereignisse von einer spezifischen Stadt oder Kulturlandschaft lösen, damit sich dieses dumpfe Gefühl, dieses „das könnte jederzeit auch bei mir um die Ecke passieren“, beim Publikum einstellt und ständig präsent ist – ganz egal, wo er, sie oder es lebt.
Wenn Sie heute, nach der Fertigstellung, auf «Hundertdreizehn» blicken: Was hat Sie selbst am meisten überrascht – sei es im Produktionsprozess oder in der Wirkung der fertigen Serie?
Mich hat vieles überrascht – allem voran vermutlich, dass es «Hundertdreizehn» überhaupt gibt. Einen so aufwendigen und teuren Stoff, der in vielen Bereichen unbekanntes Terrain betritt, finanziert und realisiert zu bekommen, ist schon ein kleines Wunder. Deshalb möchte ich an dieser Stelle auch einmal eine Lanze für die beteiligten Sender brechen. Es gehört ja mittlerweile fast zum guten Ton, sich über das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu beschweren, aber ich kann nur sagen: Ohne die mutigen und stets unterstützenden Partner vom WDR, von der Degeto und vom ORF wäre «Hundertdreizehn» in dieser besonderen inhaltlichen wie visuellen Form nicht möglich gewesen.
«Hundertdreizehn» ist seit 10. Oktober 2025 in der ARD Mediathek zu sehen. Am 14. und 15. Oktober läuft die Serie um 20.15 Uhr im Ersten.
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