Serientäter

«Drinnen – Im Internet sind alle gleich»: Wortwörtlicher Lockdown und emotionale Quarantäne

von   |  1 Kommentar

Von Ängsten, Vorwürfen und Lagerkoller: In seiner Spoilerkritik blickt Serientäter Sidney Schering auf die "Corona-Comedyserie" «Drinnen – Im Internet sind alle gleich».

Hinter den Kulissen

  • Regie: Lutz Heineking, jr.
  • Konzept: Philipp Käßbohrer
  • Drehbuch: Max Bierhals, Tarkan Bagci, Giulia Becker und Patrick Stenzel
  • Cast: Lavinia Wilson, Barnaby Metschurat, Victoria Trauttmansdorff, Jana Pallaske
  • Produktion: btf GmbH (Creative Producer: Philipp Käßbohrer, Produzent: Matthias Murmann) in Zusammenarbeit mit eitelsonnenschein (Produzent: Marco Gilles)
  • ZDFneo-Koordinatorin: Carina Bernd
  • ZDF-Redaktion: Sarah Flasch, Max Fraenkel und Lucia Haslauer
Die Comedyserie «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» dreht sich um alles, was die Corona-Zeit für viele Menschen irgendwo zwischen Jugend, jungem Erwachsenendasein und dem Übergang zu "Ja, gut, ich muss einsehen: Ich bin in meinem Leben und meinen Gewohnheiten eingefahren"-Erwachsensein ausmacht: Charlotte (gespielt von Lavinia Wilson) dreht an ihrem Rechner tagtäglich durch, weil ihre zur Risikogruppe gehörenden Eltern auf die #FlattenTheCurve-Maßnahmen pfeifen. Sie hadert damit, ihr Leben umzustellen, will aber beispiellos vorangehen. Sie hockt unentwegt an ihrem Rechner – und surft zuweilen parallel dazu auf ihrem Handy durch's Web – was sie extrem aufkratzt. Sie ist überaus gefrustet, weil sie ihren Job nun von dort aus schmeißen muss, wo sie sonst entspannt – und so etwas wie einen Feierabend gibt es nicht mehr. Von wegen "Entschleunigung" in Zeiten der Pandemie!

Das Format ist eine Kooperation zwischen der bildundtonfabrik und der TV- und Web-Schmiede eitelsonnenschein, produziert wurde es in einem nahezu beispiellosen Tempo sowie stets auf Abstand: Die Schauspieler agieren aus ihren eigenen vier Wänden heraus, die Regieanweisungen kamen übers Internet. Das Ergebnis ist ein "Best of Both Worlds" der Produktionsfirmen bildundtonfabrik und eitelsonnenschein:

Hier die Selbstironie, das Erfassen des Zeitgeistes junger, netzaffiner Erwachsener und die nerdige Detailverliebtheit der «How to Sell Drugs Online (Fast)»- und «Neo Magazin Royale»-Schmiede btf, dort die Menschlichkeit und Wärme, die eitelsonnenschein-Kopf und «Drinnen – Im Internet sind alle gleich»-Regisseur Lutz Heineking, jr. bei aller Gagdichte seinen Arbeiten einzuverleiben vermag. Und da sind natürlich noch die Stützpfeiler des Casts: Johanna Gastdorf, Nadja Becker, Serkan Kaya und vor allem Lavinia Wilson aus der sehr spaßigen eitelsonnenschein-Produktion «Andere Eltern» sind mit ihrem Spiel das tragende Element dieser Serie, die vornehmlich aus Monologen und Videochat-Dialogen besteht. Sie schaffen es, den überspitzten Figuren in wenigen, kurzen Episoden eine große Glaubwürdigkeit und humane Ader zu verleihen, die unerlässlich dafür ist, dass diese Serie aufgeht.

Nadja Becker etwa erschafft mit freundlich-bestimmten Blick und einem erschöpften, aber aufmunternden Lächeln mühelos die Figur einer systemrelevanten Freundin, die zudem für Charlotte unerlässlich ist, um auf Kurs zu bleiben – und die das gewiss auch weiß, ohne es ihrer Freundin vorzuhalten. Und Victoria Trauttmansdorff gibt Charlottes dauergutmütige, aber auch vollkommen begriffsstutzige Mutter Ulrike so punktgenau, dass man intuitiv verstehen kann, wie diese Frau eine esoterische Kopf-in-den-Wolken-Aussteigertochter (spielt praktisch sich selbst: Jana Pallaske) und eine neurotisch angehauchte Kontrollfreak-Stubenhockerin wie Charlotte großziehen konnte.

Und sie ist so liebenswert wie ungeheuerlich frustrierend, dass man spätestens mit Beginn der zweiten Serienhälfte stets in Charlottes Namen durch den Bildschirm greifen und Mama Ulrike einen Mund-Nase-Schutz aufsetzen und sie in ihrem Haus einsperren möchte, damit sie endlich aufhört, sich dauernd mit ihren Freundinnen aus der Yogagruppe zu treffen. Wenn man selber schon nach wenigen Serienminuten so tickt – da wird auch durch und durch deutlich, weshalb Charlotte so dauernervös ist.

Konsequenterweise ist es auch die filigrane Charakterzeichnung Charlottes, auf der die Serienhandlung fußt und aus der sich ihre Emotionalität generiert. Ja, ohne Corona-Pandemie und Kontaktverbot wäre diese Serie wohl nie zustande gekommen, und das Grundkonzept von «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» lebt davon, dass es unzähligen Menschen derzeit ähnlich wie Charlotte geht: Plötzlich wird die eigene Wohnung zudem zum Büro und zur primären, ja sogar quasi-exklusiven Möglichkeit der Freizeitgestaltung – und das Internet wird vom heimlichen zum förmlich unvermeidlichen Lebensmittelpunkt. Und «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» fängt dieses sehr spezifische Zeitgeistgefühl ebenso gewitzt wie zielsicher ein.

Videokonferenzen in «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» sind rappelvoll mit Fremdscham-Anblicken, irritierend-bemühter Schein-Alltäglichkeit und ungewollt aussagekräftigen Einblicken in die Privatleben von sonst nur losen Bekannten. Videotelefonie ist zugleich befremdlicher als es normale Gespräche sind, als auch vertraulicher als normale Telefonate – was zu äußerst großen Peinlichkeiten führen kann. Vor allem Charlottes Arbeitskollegin Jana (Julia Jenkins) hüpft von einem bemitleidenswerten Fettnäpfchen ins nächste "Hau mir bloß ab"-Nerv-Fettnäpfchen.

Aber allem zum Trotz ist diese Lockdown-Dimension nicht der Kern von «Drinnen – Im Internet sind alle gleich». Sie ist der Hintergrund der Erzählung, der die Geschichte und Charakterzeichnung bereichert. Schlussendlich geht es nämlich darum, dass unsere Protagonistin Charlotte durch die außergewöhnlichen Bedingungen während der Corona-Pandemie heftiger denn je mit ihrem schon seit Jahren aus den Fugen geratenen Gefühlsleben konfrontiert wird.

Denn, wie ein sich im Verlauf der ersten paar Folgen verhärtender Verdacht bereits nahe gelegt hat: Charlotte wird von überwältigenden Schuldgefühlen geplagt. Vor Jahren lehnte sie eines Nachts ab, ihre angetrunkene Schwester von einer Party abzuholen. Anschließend verunglückte ihre Schwester bei einem tödlichen Unfall, weshalb Charlotte sich selbst als den Grund für den Tod ihrer Schwester betrachtet. Nun ihre Chefin schwerkrank zu sehen (und letztlich zu erfahren, dass sie nach ihrer Krankenhausentlassung von einem Bus überrannt wurde), ständig zu hören, wie egal ihren Eltern Corona ist und von ihrer ihr noch gebliebenen Esoterik-Schwester ein großes "Alles easy!"-Leben vorgelebt zu bekommen, triggert Charlotte ungemein: Ihrer Ansicht nach leben alle tumb vor sich hin und sie, sie allein hält die Fäden in der Hand – und ist daher auch (ihrer Ansicht nach) an jedem möglichen Unglück schuld.

Daher hadert sie auch so sehr damit, sich endlich zu entscheiden, ob sie ihre Ehe retten oder radikal beenden möchte – jede Entscheidung Charlottes würde ja weitere Konsequenzen nach sich ziehen, vor denen sie sich fürchtet. Gleichwohl kann und will sie nicht mehr weiter ausharren. Die coronabedingte gesellschaftliche Zwangspause sowie das in Charlottes Augen nun zunehmende Verrücktwerden aller um sie herum erschwert ihre geistige Schockstarre – und so kommen die Konflikte in der Serie zustande. «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» nutzt den Lockdown und seine Folgen als eine Art Spiegel für Charlottes Innenleben: Sie kennt nur ein einziges, alles vereinendes Problem, das ihr ganzes Leben bestimmt, und hat sich längst kommunikativ von der Außenwelt abgeschottet. Gespräche auf Augenhöhe waren für Charlotte schon lange ein Ding der Unmöglichkeit.

Daher ist es auch ein großer, sich zu Beginn der Serie noch nicht zwingend als solcher erkenntlich machender, erzählerischer Schachzug, dass Charlotte so eine mehrdimensionale, sich in Widersprüchen verheddernde Persönlichkeit ist, während alle anderen Figuren bestenfalls zweidimensional sind: In «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» sind alle Figuren darauf reduziert, was Charlottes beengte Sicht auf ihr Umfeld sowie der Filter namens Onlinekommunikation von ihnen übrig lassen.

Der größte erzählerische Coup an «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» ist aber die Auflösung des Ganzen – denn die Serie endet zwar mit einem voller Inbrunst geschriebenen, feurigen Monolog Charlottes. Doch die emotionale und thematische Mechanik dahinter ist sehr eng verzahnt und komplex: «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» endet nicht mit "Du musst dich einfach öffnen"-Balsam oder mit einem "Stimmt schon, diese Lockdown-Dauerbeschallung mit digitaler Kommunikation ist echt nervig", sondern mit einem zu Beginn der Serie unmöglich scheinenden Kompromiss dieser beiden Ansätze.

Im Laufe von etwa 150 Minuten macht Charlotte solch eine irrwitzige Reise der Selbsterkenntnis durch, dass ihre Quarantäne-Panik und Schuldgefühl-Odyssee damit enden, dass sie einsieht: Dieses anfängliche Panikschieben, weil nun weite Teile der gesellschaftlichen Interaktion heruntergefahren wurden, war übertrieben. Da müssen und können wir durch, wenn wir uns vom Stubenhocken nicht verrückt machen lassen. Denn Abschalten und Alleinsein kann auch wertvoll und lehrreich sein – wenn wir der aufscheuchenden Versuchung der 24/7-Digitalkommunikation entsagen und unsere fomo (fear of missing out) bezwingen. Gleichwohl muss kein Mensch eine Insel sein – gezielte, offene Kommunikation mit den Unsrigen und empathisches Hineinversetzen in unser Gegenüber sind unerlässlich für den eigenen Seelenfrieden.

Und so endet «Drinnen – Im Internet sind alle gleich» mit dem Beginn wie dem Abschluss von Isolation: Charlotte kommt aus ihrer Hülle des trügerischen Selbstschutzes heraus und spricht ehrlich darüber, wie sie sich fühlt und fragt ihre Familie aufmerksam, wie ihr es ergeht. Doch Charlotte gibt zudem fremdauferlegte Pflichten, denen sie nicht gewachsen ist, ebenso auf wie den oberflächlichen Dauerkonsum digitaler Kommunikation. Wenn sie zum Durchatmen einen Spaziergang mit Schutzmaske wagt, beginnt ihre Web-Quarantäne, während ihre sprichwörtliche wie wortwörtliche Abschottung von der Welt endet. Ein fast schon poetisch-oxymoronischer Schluss ...

«Drinnen – Im Internet sind alle gleich» ist bis zu 2. Oktober 2020 vollständig in der ZDFmediathek abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/117860
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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
28.04.2020 15:34 Uhr 1
Ist echt nicht schlecht gemacht und Lavinia spielt diese frustrierte Figur sehr gut!

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