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«Der Schrei – Der rätselhafte Fall Rafael Blumenstock»

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Im True-Crime-Podcast rekonstruiert der SWR den ungeklärten Mord an einem außergewöhnlichen jungen Mann – und erzählt zugleich von einer Stadt, die lange wegsah.

Seit 35 Jahren wirft der Mord an Rafael Blumenstock einen dunklen Schatten über die Stadt Ulm. Es ist ein Fall, der so grausam wie rätselhaft ist – und bis heute ungelöst. Im neuen SWR-True-Crime-Podcast «Der Schrei – Der rätselhafte Fall Rafael Blumenstock» begibt sich Journalistin Chiara Battaglia auf eine emotionale und akribische Spurensuche. Sie rekonstruiert nicht nur die Tatnacht vom 4. November 1990, sondern erzählt zugleich die Geschichte eines Menschen, der seiner Zeit voraus war – und vielleicht genau deshalb zum Opfer wurde.

Rafael Blumenstock war ein junger Mann, der auffiel. Nicht nur durch seine Streiche, die ihn in den 1980er-Jahren zu einer bekannten Figur in Ulm machten, sondern vor allem durch sein Selbstverständnis, das nicht in die engen Normen jener Zeit passte. Rafael trug Lippenstift, Handtaschen und lange Kleider, trat auf Bühnen auf, spielte Rollen, die ihn frei machten. In einer Zeit, in der Geschlechtergrenzen noch starr und konservative Werte tief verankert waren, lebte er seine Identität mit einer Selbstverständlichkeit, die viele irritierte. Doch genau diese Unangepasstheit machte ihn auch angreifbar.

Am frühen Morgen des 4. November 1990 wird Rafael tot auf dem Münsterplatz gefunden – nur wenige Schritte vom Polizeipräsidium entfernt. Der 28-Jährige wurde brutal ermordet. Ein Detail erschüttert die Ermittler bis heute: Die Täter schnitten ihm die Nase ab. Ein Akt der Entmenschlichung, der Fragen nach dem Motiv aufwirft. War es Hass? Eine persönliche Fehde? Oder schlicht das Ergebnis einer Stadt, die einen Menschen wie Rafael nicht ertrug?

Der Podcast greift diese Fragen auf – mit journalistischer Präzision und erzählerischer Wucht. Host Chiara Battaglia zeichnet das Bild einer Stadt, die zwischen Aufbruch und Enge, zwischen Provinz und Moderne schwankt. In der ersten Folge, „Welcome to Dadonlandia“, versucht sie, Rafael als Menschen zu begreifen: als Künstler, Träumer und Provokateur. Freunde, Wegbegleiter und Angehörige erinnern sich an seine Energie, seine Leidenschaft, aber auch an die Konflikte, die sein Anderssein hervorrief. Es entsteht ein berührendes Porträt eines jungen Mannes, der einfach nur er selbst sein wollte – in einer Umgebung, die dafür kaum Raum ließ.

In der zweiten Episode, „Die Nase“, wendet sich die Reporterin dem Tatgeschehen zu. Gemeinsam mit dem forensischen Experten Prof. Dr. Kunz analysiert sie die grausamen Details des Mordes. Hier wird die Kälte des Verbrechens spürbar – und die Ratlosigkeit der Ermittler, die bis heute keine klare Spur haben. Battaglia spricht mit Freunden und Angehörigen, die ihre eigenen Theorien entwickeln: War Rafael Opfer eines homophoben oder transfeindlichen Angriffs? Ein Zufallsopfer? Oder stand sein Tod im Zusammenhang mit der rechtsextremen Szene, die in den 1980ern auch in Süddeutschland präsent war?

Die dritte Folge, „Das Phantom“, rückt die einzige Zeugin in den Mittelpunkt. Eine Frau will in der Tatnacht Schreie gehört haben – Rafaels Schreie. Sie ist bis heute die einzige, die sich gemeldet hat. Doch ihre Erinnerung ist vage, die Umstände undurchsichtig. Gleichzeitig kursierten damals in der Presse Gerüchte über Skinheads, Springerstiefel, rechtsradikale Gruppen. Battaglia konfrontiert einen ehemaligen Neonazi, spricht mit dem Cold-Case-Team der Polizei und versucht herauszufinden, wie ein solcher Mord mitten in der Stadt geschehen konnte – ohne, dass jemand wirklich hingesehen hat.

Der Reiz dieses Podcasts liegt nicht nur in der kriminalistischen Aufarbeitung, sondern in seiner emotionalen Tiefe. «Der Schrei» ist kein klassisches True-Crime-Format, das bloß Tatabläufe und Indizien rekapituliert. Es ist eine soziologische Zeitreise, eine akustische Rekonstruktion des Lebensgefühls der 1980er-Jahre – und eine stille Anklage gegen Ignoranz und Vorurteile. Battaglia verleiht dem Opfer seine Stimme zurück. Sie sucht nicht nach Sensation, sondern nach Verständnis.

Untermalt wird die Serie von einer eindringlichen Soundgestaltung: flackernde Neonlichter, das Echo der Schritte auf dem Münsterplatz, die unheimliche Stille einer kalten Novembernacht. Musik und Geräusche tragen die Atmosphäre einer Stadt, die nicht vergessen kann – oder nicht vergessen will.

Am Ende bleibt «Der Schrei» mehr als ein Podcast über ein Verbrechen. Es ist eine Geschichte über Sichtbarkeit, Mut und gesellschaftliche Ausgrenzung. Rafael Blumenstock steht exemplarisch für all jene, die anders waren – und dafür bestraft wurden. Chiara Battaglia macht aus seinem Schicksal eine Chronik des Schweigens, das viel zu lange andauerte.


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