Interview

‚Wir erzählen dutzende Geschichten über Polizisten – aber viel zu selten über jene, die unter Polizeigewalt leiden‘

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Mit «Polizei» wagt der NDR einen seltenen Blick auf ein Thema, das im deutschen Fernsehen meist ausgeblendet wird: Polizeigewalt aus der Sicht eines Betroffenen. Redakteurin Sabine Holtgreve und NDR-Fiktionchef Christian Granderath sprechen im Interview über Verantwortung, Authentizität und die Frage, wie man einen hochsensiblen Stoff erzählt, ohne ihn zu politisieren – und gerade dadurch gesellschaftlich relevant macht.

«Polizei» ist kein klassischer Krimi, sondern ein Film, der Gewalt, Macht und Ohnmacht aus der Perspektive eines Opfers zeigt. Warum war es Ihnen als Redaktion wichtig, genau diese Sichtweise zu erzählen?
Christian Granderath: Wir erzählen Sonntag, Montag, Dienstag, Donnerstag und Samstag nahezu täglich in unterschiedlichen Formaten im Vorabend- und Hauptabendprogramm positive Geschichten von Polizistinnen und Polizisten. Meist aus der Helden- und Heldinnen-Perspektive – dafür stehen Formate wie «Tatort», «Polizeiruf», der Donnerstagskrimi, «Großstadtrevier» und «Morden im Norden», to name but a few. Es ist jedoch wichtig, in der Fiktion auch andere Perspektiven zu zeigen, denn Polizeigewalt gibt es in der Wirklichkeit tatsächlich. Überbordende, unverhältnismäßige Gewalt von Polizisten – die einen sehr herausfordernden und schwierigen Job haben – ist sicher die Ausnahme, sie darf aber nicht tabuisiert werden. Dafür stehen stellvertretend prominente Fälle wie Benno Ohnesorg und Oury Jalloh oder Berichte von Bürgerinnen und Bürgern, die bei Demonstrationen mit härterem polizeilichem Vorgehen konfrontiert wurden. Was dies zur Folge haben kann, davon erzählt «Polizei». Die Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit.

Laila Stieler arbeitet seit Jahrzehnten mit Ihnen zusammen. Was schätzen Sie an ihrer Art des Erzählens – und warum ist sie gerade für einen Stoff wie diesen die richtige Autorin?
Christian Granderath: Wir haben uns kurz nach dem Mauerfall kennengelernt und immer wieder zusammengearbeitet. Laila gehört zu den herausragenden Drehbuchautorinnen Deutschlands. Davon zeugen Bären, Löwen, Lolas, Deutsche Fernseh- und Grimme Preise sowie viele andere Auszeichnungen. Dabei ist sie eine der Autorinnen, die sich konsequent dem Krimi verweigern und noch nie einen «Tatort» oder «Polizeiruf 110» geschrieben haben. Vor 25 Jahren haben wir gemeinsam mit Andreas Dresen «Die Polizistin» entwickelt, Gabriela Schmeide und Axel Prahl spielten damals zwei wunderbare Rostocker Streifenpolizisten. Laila zeichnet ihre Figuren so fein, sensibel, emphatisch und sozial präzise verortet wie nur wenige andere. Eine konstruierte Handlung entwickelt sich in ihren Geschichten eher beiläufig, es geht ihr erst einmal um Authentizität, Alltag und Wirklichkeit. Sie beschäftigt sich mit den Entwicklungen im Inneren ihrer Charaktere, im Kontext eines genau abgesteckten gesellschaftlichen und sozialen Rahmens. Vermutlich hat das auch mit ihrer ostdeutschen Herkunft zu tun. Sie führt wichtige Erzähltraditionen im deutschen Film fort, für die große Namen wie Wolfgang Kohlhaase und Konrad Wolf stehen.

Viele Filme über Polizeigewalt polarisieren oder werden schnell als „politisch“ abgestempelt. Wie balanciert man als Redaktion zwischen künstlerischer Freiheit und gesellschaftlicher Verantwortung?
Sabine Holtgreve: Polizeiarbeit ist vielfältig und facettenreich, genau das möchten wir mit all unseren Formaten zeigen - der NDR produziert mit den Donnerstagskrimis, den Tatorten und den Vorabendserien zehn Polizei-Formate. Der Film «Polizei» ergänzt dieses Spektrum um eine Perspektive, die auf realen Erfahrungen beruht. Wenn wir einen Film zeigen, der – auf echte Erfahrungen gestützt - auch Missstände bei der Polizei thematisiert, dann ist das kein politisches Statement, sondern eine zusätzliche Facette der Realität, von der wir auch erzählen wollen.

Mit Buket Alakuş stand eine Regisseurin hinter der Kamera, die für Empathie, Realismus und Diversität steht. Was hat sie aus Ihrer Sicht in diesen Film hineingebracht, das ihn von anderen Sozialdramen unterscheidet?
Sabine Holtgreve: Wir schätzen Buket Alakuş für ihren poetischen und sehr warmen Blick, den sie generell auf Figuren hat. Im Film steht das subjektive Erleben einer Figur im Zentrum, die Mist baut und dafür eine unangemessen harte Reaktion bekommt, von Vertretern einer Institution, der sie eigentlich vertraut. Die Regie und auch die Kamera von Falko Lachmund lässt uns sehr nah daran teilhaben. Der Film thematisiert auch eine junge Generation, die sich von Institutionen entfremdet fühlt.

Polizei, Justiz, Staat. Wie sehen Sie diese Generationenfrage im aktuellen gesellschaftlichen Klima?
Christian Granderath: Das lässt sich schlecht in drei Sätze fassen. Die Welt ist überall aus den Fugen geraten, das spürt ja jeder. Daraus resultieren Wut- und Ohnmachtsgefühlen und das erlebt man als Heranwachsender anders als ein Erwachsener. Es geht in unserer Geschichte, die ja in der Corona Zeit spielt, nicht nur um Polizeigewalt, sondern um Desinteresse und Ignoranz des Staates Jugendlichen gegenüber.

Levy Rico Arcos und Petra Schmidt-Schaller tragen den Film emotional. Welche Bedeutung hatte das Casting für die Glaubwürdigkeit und Wirkung des Projekts?
Sabine Holtgreve: Die wunderbare Casterin Jaqueline Rietz – die auch Filme wie den Oscar-Kandidaten «In die Sonne schauen» besetzte - hat sehr viele, sehr gute Vorschläge gemacht. Buket Alakuş hat alle Schauspieler und Schauspielerinnen zusammen mit dem Hauptdarsteller Levi Rico Arcos gecastet, um die Chemie auszuprobieren, dass ist ungewöhnlich für einen Fernsehfilm und trägt aber sicher auch dazu bei, dass die Figuren so vertraut und nahbar wirken.

«Polizei» ist kein einfacher Stoff. Wie begleiten Sie als Redaktion solche sensiblen Produktionen – gerade in der Phase der Drehbuchentwicklung und Tonfindung?
Christian Granderath: Wie professionell üblich – wir fragen, tauschen uns mit der Autorin, Regisseurin und Produzent über Dramaturgie, Besetzung, die Bilder und die Töne und Zwischentöne aus. Laila hat dabei eine wichtige Rolle gespielt, aber natürlich auch die Regisseurin Buket Alakuş und Produzent Peter Hartwig. Der Film hat nicht umsonst den renommierten Produzentenpreis beim Hamburger Filmfest erhalten.

Sie beide haben schon mit vielen politisch relevanten Stoffen gearbeitet. Wie verstehen Sie die Rolle des öffentlich-rechtlichen Fernsehens heute – als Vermittler, Mahner, Spiegel oder Debattenraum?
Christian Granderath: Als Vermittler und Mahner sehe ich den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht. Wir sollten aus meiner Sicht auch in der Fiktion nicht pädagogisch oder mit erhobenem Zeigefinger erzählen wollen. Schon eher Spiegel und Debattenraum sein, und ohne Angst davor, als unbequem zu gelten und zwischen den Stühlen zu sitzen, das finde ich im Rahmen einer klugen Mischkalkulation persönlich wichtig.

Wenn Sie an die Reaktionen des Publikums denken: Wünschen Sie sich, dass «Polizei» vor allem Empathie erzeugt, Widerspruch hervorruft oder konkrete gesellschaftliche Diskussionen anstößt?
Sabine Holtgreve: Das ist eine wirklich gute Beschreibung von all den Dingen, die wir uns wünschen als Wirkung für einen Fernsehfilm.

Vielen Dank für Ihre Zeit!

«Polizei» ist seit 19. November in der ARD Mediathek abrufbar. Das Erste strahlt den Film am Mittwoch, den 26. November, um 20.15 Uhr aus.

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