Uns hat zunächst der Widerspruch interessiert: Einerseits garantiert das Grundgesetz Meinungsfreiheit, andererseits haben viele Menschen das Gefühl, sie könnten nicht mehr frei sprechen. Da wir die Doku zum Tag der Deutschen Einheit produzieren, an dem an wieder gewonnene Freiheit erinnert wird, hat uns Freiheit auch im größeren Kontext interessiert. Deutschland hat Freiheit und Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg nicht zuletzt durch die USA wiedererlangt. Jetzt spricht uns die US-Regierung Meinungsfreiheit ab, sorgt diesbezüglich aber im eigenen Land für zweifelhafte Entscheidungen. Darum sind wir für diese Dokumentation auch in die USA gereist.
Die Zahl ist alarmierend: Nur 40 Prozent der Deutschen glauben laut Studie, ihre Meinung frei äußern zu können. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?
Viele haben inzwischen Angst oder Sorge vor immer schärfer werdenden Reaktionen. Es ist eine Entwicklung, die viel mit Toleranz, genauer: mit fehlender Toleranz zu tun hat. Hinzu kommt ein gesellschaftliches Klima der Gereiztheit, das möglicherweise den Eindruck verstärkt, „man könne nichts mehr sagen“ oder man müsse vorsichtiger sein.
Der Satz „Man darf ja nichts mehr sagen“ fällt in vielen Gesprächen. Haben Sie während Ihrer Recherche herausgefunden, ob das eher ein gefühltes Phänomen ist – oder steckt tatsächlich mehr dahinter? Beispielsweise weil unsere Gespräche digitaler geworden…
Umfragen wie diese spiegeln mehr ein Gefühl von Verunsicherung als eine reale Einschränkung wider. Das Internet verstärkt dieses Gefühl, verstärkt in jedem Fall die Polarisierung. Online bekommt man sofort Gegenwind – das wirkt oftmals größer als es in Wahrheit ist. Allerdings sind Themen wie Migration sehr real und so dermaßen aufgeladen, dass schon ein falsches Wort für den nächsten Shitstorm ausreicht.
Wie unterscheiden Sie zwischen echter Einschränkung von Meinungsfreiheit und dem Unbehagen mancher Menschen, mit Widerspruch umgehen zu müssen?
Das ist doch genau das Thema. Widerspruch heißt nicht Zensur – es gibt viele, die das verwechseln. Wer Kritik für eine Aussage erntet, empfindet das teilweise schon als unverschämt, weil es nicht der eigenen Meinung entspricht. Das ist Teil des Problems. Kritik gehört zum Dialog – und das ist eine Binse: Der Ton macht die Musik! Wenn Person A die Politik der Regierung lobt und Person B das geisteskrank findet und noch eine Beschimpfung wie A-Loch hinterherwirft, darf ich keinen vernünftigen Dialog erwarten, aber davon ausgehen, dass Person A es sich zweimal überlegt, noch mal so etwas in die Welt zu posaunen.
Ihre Doku fragt auch: Wird der Meinungskorridor enger – im Freundeskreis, im Job, in den Medien. Welche Unterschiede haben Sie in diesen Bereichen festgestellt?
Unter Freunden traut man sich mehr zu sagen, beim Job wird man wahrscheinlich vorsichtiger sein, weil es um Karriere und Ansehen gehen kann. Wo der Meinungskorridor enger zu werden droht, ist dort, wo der reformierte Paragraf 188 zur Anwendung kommt. Wir haben für unseren Film die FDP-Politikerin Marie Agnes Strack-Zimmermann interviewt, weil sie die Liste der Politikerinnen und Politiker anführt, die am häufigsten gegen üble Nachrede und Beleidigung geklagt haben. Eine dieser verklagten Personen haben wir besucht: Diese ist juristisch dagegen vorgegangen und bekam Recht. Obwohl es für sie gut ausging, hat sie uns gegenüber beklagt, dass der Paragraf 188, der die Demokratie und deren Repräsentanten besser schützen soll, einschüchternd wirke. Man traue sich nicht mehr, Kritik zu äußern, aus Angst, dass die Kritik als strafbare Beleidigung ausgelegt werden könnte. Das ist keine positive Entwicklung in einer Demokratie.
Gerade die sozialen Medien verschärfen viele Debatten. Welche Rolle spielen Facebook, X und Co. beim Gefühl, nicht mehr frei reden zu können?
Es ist kein Geheimnis, dass Social-Media Mitauslöser dieser Problematiken ist. Jeder Tweet kann Wellen schlagen, Polarisierung verstärken oder ein Klima erzeugen, in dem Menschen Angst haben, missverstanden zu werden. Eine Entwicklung, die die großen Tech-Unternehmen bewusst vorantreiben, weil sie genau damit Geld verdienen. Die EU versucht zwar, die großen Betreiber zu reglementieren, aber bislang mit bescheidenem Erfolg. Die meisten Internetgiganten kommen aus den USA, deren Chefs liegen der Trump Administration inzwischen zu Füßen. Darum beklagten die USA unter anderem, dass wir in Europa die Meinungsfreiheit beschneiden würden, weil Brüssel versucht Facebook, X und Co stärker für Hatespeech und Fakenews verantwortlich zu machen. Das verstehen sie im Silicon Valley als direkten Angriff auf ihr Geschäftsmodell. Und da sagt dann auch Trump vielleicht irgendwann: Bis hierher und nicht weiter, sonst fallen mir neue Zölle ein.
In Ihrer Arbeit als ZDF-Moderator sind Sie selbst täglich mit verschiedenen Meinungen konfrontiert. Gab es Situationen, in denen Sie den Druck oder die Verengung von Debatten persönlich gespürt haben?
Den Druck spüre ich – manche Themen lösen sofort heftige Reaktionen aus. Ich halte mich bei Social Media eher zurück. Als ich mich vor einiger Zeit zu den Correctiv-Recherchen und zur umstrittenen „Remigrationsdebatte“ geäußert habe, gab es viel positives Feedback, aber auch das krasse Gegenteil. Ich habe gelernt, mit Kritik umzugehen, doch kann ich gut verstehen, wenn die Aggressivität und Masse in sozialen Medien bei vielen dazu führt, sich dort zurückzuziehen.
Kritiker sagen, dass wir in Deutschland gar kein Problem mit Meinungsfreiheit haben, sondern eher mit der Bereitschaft, andere Meinungen auszuhalten. Wie sehen Sie das nach Ihren Recherchen?
Zum Teil stimmt das. Ich glaube an die Kraft von Toleranz als sozialen Kitt unserer Gesellschaft. Wir müssen stärker lernen, auch unbequeme Meinungen auszuhalten. Und mit uns meine ich tatsächlich uns alle. Ich sehe Beides: Wir haben Meinungsfreiheit, aber inzwischen auch eine Kultur der ritualisierten und schnellen Empörung.
Die Dokumentation erscheint am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit. Welche Bedeutung hat dieser historische Tag für das Thema, das Sie behandeln?
Ich habe für den Film einen Künstler getroffen, der mich beeindruckt hat. Angesprochen darauf, dass viele im Osten inzwischen sagen, heute sei es schlimmer als damals in der DDR, antwortete er: Wer so etwas sage, wisse nicht, wie sich Unfreiheit anfühle. Wir haben das Interview im ehemaligen Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen geführt, das heute eine Gedenkstätte ist. Wir waren in seiner ehemaligen Zelle – er musste wegen regimekritischer Gedichte dort einsitzen.
Was wünschen Sie sich nach der Ausstrahlung – welche Diskussion sollte «Am Puls mit Mitri Sirin» im besten Fall anstoßen?
Im besten Fall bringt der Film das Publikum dazu, die eigene Freiheit oder das eigene Freiheitsgefühl zu hinterfragen. Wenn sich immer weniger Menschen aus Angst oder Sorge trauen, Kritik zu äußern und sich aus dem Debattenraum zurückziehen, dann ist das schlecht für unsere Demokratie. Mehr direkt miteinander zu reden, ist immer noch ein guter Kompass. Im Grunde besteht Freiheit darin, alles tun oder sagen zu können, was anderen nicht schadet.
Vielen Dank für Ihre Arbeit!
«Am Puls mit Mitri Sirin: Ist unsere Meinungsfreiheit in Gefahr?» ist am 3. Oktober 2025 um 19.25 Uhr im ZDF zu sehen. Die Dokumentation ist bereits ab 2. Oktober in der ZDFmediathek.
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