Die Kino-Kritiker

«Oxygen»

von   |  1 Kommentar

Eine Frau erwacht in einem High-Tech-Kokon. Weder kann sie sich erinnern, wie sie in diesen Kokon geraten ist, noch weiß sie, wer sie ist. Was sie weiß: Ihr geht langsam die Luft aus.

Stab

REGIE: Alexandre Aja
PRODUZENTEN: Alexandre Aja, Grégory Lavasseur, Vincent Maraval, Brahim Chioua, Noëmie Devide
DREHBUCH: Christie LeBlanc
MUSIK: Rob
SCHNITT: Hervé Schneid
KAMERAMANN:Maxime Alexandre
DARSTELLER: Mélanie Laurent, Mathieu Amalric, Malik Zidi

101 min
Start: 12. Mai 2021
USA / Frankreich 2020/21
Alexandre Aja gehört zu den Begründern der Neuen französischen Härte, jenen Filmen, die in den Nullerjahren den französischen Film um zwei Elemente ergänzt haben, das den Filmen der Grande Nation, bei all der Vielfältigkeit des französischen Kinos, bis dato gefehlt hat: Blut und Gedärme. Ajas 2003 entstandenes Blut- und Gedärmewerk «Haute Tension» landete in Deutschland denn auch stante pede auf dem Index für jugendgefährdende Schriften. Die Geschichte über die Begegnung zweiter Studentinnen mit einem in Serie mordenden Psychopathen mag seine amerikanischen Slashervorbilder nicht verleugnen, dass Ajas Film aber weithin Wellen schlug, lag nicht nur an der vollkommen enthemmten Darstellung der Gewalt, die nicht nur in Deutschland Jugendschützer Panikausbrüche erleiden ließ. Ein Film wie «Haute Tension» sieht einfach unglaublich gut aus. Es wäre in Frankreich wahrscheinlich ein Staatsverbrechen, einen Film zu drehen, dessen Kamera nicht höchsten Ansprüchen genügt und das Handwerk zur Kunst erhebt. Und so sehen die Filme dieser kurzen, heftigen Blut- und Gekröse-Phase des französischen Kinos einfach um Klassen besser aus als ihre amerikanischen Pendants.

Wo die Filme eines Eli Roth als von sich selbst besoffene Gewaltpornos inszenatorische Finesse im besten Fall dadurch behaupten, dass sie ordentlich ausgeleuchtet sind und die Kamera nicht wackelt, arbeitet Aja in einer ganz anderen inszenatorischen Liga. Ob sein Remake von Wes Cravens «The Hills Have Eyes» oder «Piranha 3D»: Aja drückt aufs Tempo. Er kennt keinen Stillstand. Er hält die Kamera auf das Geschehen. Er erschafft Räume, die ihre Protagonisten einschließen (siehe seinen Krokodils-Thriller «Crawl»). Er ist einfach ein verdammt guter Spannungsregisseur. Der für diesen Film einmal mehr auf den belgischen Kameramann Maxime Alexandre gesetzt hat. Der hat bereits die Kamera von «Haute Tension» geführt und zuletzt auch «Crawl» ins nasse Bild gesetzt. Obwohl auf Horrorfilme spezialisiert, stammt von ihm aber auch die wunderbare Kamera des nicht minder wunderbaren DC-Superheldenepos «Shazam!».

Und so finden Alexandre Aja und Maxime Alexandre eine beeindruckende Bildsprache für ihr aktuelles Projekt. Ein Projekt, das schon über viele Jahre die Runde machte, immer wieder mal angekündigt wurde, aber doch nicht in Produktion ging. «Oxygen» galt als unverfilmbar. Ein Film, dessen gesamte Handlung sich zu rund 90, vielleicht sogar 95 Prozent seiner Spielzeit ausschließlich in einem – Sarkophag? - abspielt, in dem eine Frau liegt, die nicht einmal aufstehen kann, da es ihr an dem entsprechenden Platz fehlt?

Ganz ehrlich: Man muss «Oxygen» schon allein der Tatsache wegen schauen, um glauben zu können, dass eine Kamera auf einem solch beengten Raum solch eine Beweglichkeit entwickeln kann wie die von Maxime Alexandre. Auf einem Raum von vielleicht zweieinhalb Quadratmetern Fläche erschaffen die Bilder ein Tempo, die vollkommen vergessen lassen, wie unfassbar beengt dieser Raum in Wahrheit ist. Und dann ist da Mélanie Laurent, die die anfangs unbekannte Frau darstellt, die in einem High-Tech-Sarg erwacht, ohne Erinnerungen an ihre Vergangenheit und die ein beeindruckendes Spiel abliefert, in dem sie in (fast) jeder Szene vollkommen alleine zu sehen ist.

So also liegt sie da. Angeschlossen an eine Maschine, die ihr offenbar eine Flüssigkeit verabreicht, die sie am Leben erhält. Die noch unbekannte Frau verfällt in Panik. Schnell jedoch gelingt es ihr, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Vor allem ab dem Moment, in dem sie feststellt, doch nicht ganz alleine zu sein. Nun, sie ist schon das einzige lebendige Wesen an diesem Ort. Allerdings ist da eine KI, eine künstliche Intelligenz, die offenbar an einem großen Computernetzwerk hängt und ihr Fragen beantwortet. Schnell erkennt die noch immer namenlose Frau, dass sie offenbar mehr über diese Maschine weiß als ihr im Moment des Erwachens bewusst gewesen ist. Sie stellt offenbar die richtigen Fragen. Sie weiß Dinge über den menschlichen Körper, die sie erahnen lassen, dass sie möglicherweise eine Ärztin sein könnte. Oder zumindest eine Wissenschaftlerin, die sich mit dem menschlichen Körper ausgiebig befasst hat. Und dann fällt ihr etwas in ihrer eigenen Sprache auf. Sie ist Französin. Aber möglicherweise nicht gebürtig. Mit diesen Informationen gelingt es ihr, ihren (möglichen) Namen mit Hilfe der KI herauszufinden: Elizabeth Hansen. Aufgewachsen in Frankreich, gebürtig aus Stockholm. Mit diesen Infos gelingt es ihr, über eine Verbindung, die die KI mit der Außenwelt verbindet, die Polizei zu alarmieren. Mit all den kleinen Hinweisen, die sie in ihrem High-Tech-Sarg zusammenträgt, kann sie der Polizei sogar Hinweise auf ihren Aufenthaltsort liefern.

Wenn Elizabeth allerdings glaubt, sie würde bald gerettet, irrt sie. Schließlich sind zu diesem Zeitpunkt der Geschichte noch 75 Minuten Spielzeit mit Handlung zu füllen. Elizabeth wird also noch manch eine Überraschung erleben. Unter anderem mit der KI, die darauf programmiert ist, Menschen, die Gefahr laufen, einen grauenhaften Tod zu erleiden, sanft einzuschläfern...



«Oxygen» galt lange Zeit als unverfilmbar und Alexandre Aja war als Regisseur auch nicht die erste Wahl. Anna Hathaway wurde für die Hauptrolle 2017 gecastet, ihr folgte Noomi Rapace, die schließlich aus Termingründen aussteigen musste (aber einen cleveren Vertrag aushandelte, der ihr einen ausführenden Produzentenposten einbrachte). Die Vorproduktion plante schließlich der französische Regisseur Franck Khalfoun, der mehrfach mit Aja bei diversen Projekten zusammenarbeitet hat (meist mit Aja als Produzent), bevor Aja angefragt wurde, das Projekt zu übernehmen.

Überraschend an «Oxygen» fällt möglicherweise die Tatsache auf, dass sich Aja in Bezug auf allzu drastische Bilddarstellungen zurückhält. Die Story ist nicht ohne Härten. Doch Aja inszeniert diese nur als kurze Momente. Er fokussiert sich ganz auf die Angst seiner Hauptfigur, auf ihre Panik, ihre Momente der Ruhe, Augenblicke der Hoffnung und Niedergeschlagenheit. Dafür braucht er keine krassen Bilder, es reicht das Schauspiel der Mélanie Laurent, um all diese Momente spürbar zu machen.

Momente, die einem nicht selten ebenso die Luft abschnüren wie der Hauptfigur, der, bekanntlich, langsam die Luft ausgeht.

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
16.10.2021 19:08 Uhr 1
Was für ein echt krasser Film mit einem völlig überraschendem Ende!! Absolut sehenswert!

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