Die Kino-Kritiker

«Familienbande»

von

«Game of Thrones»-Star Aidan Gillen zeigt sich als Ex-Häftling, der sich um seine aufgeweckte Nichte kümmern muss, von einer ungewohnt melancholischen Seite.

Filmfacts «Familienbande»

Kinostart: 19. November 2015
Genre: Drama
FSK: 6
Laufzeit: 81 Min.
Regie: Mark Noonan
Drehbuch: Mark Noonan
Darsteller: Aidan Gillen, Lauren Kinsella, Erika Sainte, George Pistereanu, Steve Wall
OT: You’re Ugly Too (Irland 2015)
Familiengeschichten, in denen sich ein unverhoffter Vormund plötzlich um Nachwuchs kümmern muss, sind bei weitem keine Seltenheit in der Filmwelt. Egal, ob dieser Umstand nun aus generell gestörten Familienverhältnissen, tragischen Zwischenfällen, der bloßen Verschiebung von Verantwortungsbereichen oder schlicht überraschender Elternschaft resultiert, laufen derartige Werke gerade im US-amerikanischen Mainstreamkino häufig auf ein Ergebnis hinaus, in dem früher oder später vehement auf die Tränendrüse gedrückt wird. Auch wenn daran, per se nicht zwangsläufig etwas auszusetzen ist, demonstriert die irische Tragikomödie «Familienbande» nun einen erfreulichen Gegenentwurf, in dem außerordentlich liebevoll und ohne aufgesetztes Pathos von der Annäherung zweier Verwandter erzählt wird, die sich so gut wie gar nicht kennen.

Nach dem Tod ihrer Mutter soll die elfjährige Stacey (Lauren Kinsella) bei ihrem Onkel Will (Aidan Gillen) unterkommen, den sie seit mehreren Jahren nicht mehr gesehen hat und der nun unter strengen Bewährungsauflagen sogar extra vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurde, um sich als einziger verbliebener Verwandter um seine Nichte zu kümmern. Gemeinsam beziehen die beiden einen kleinen Wohnwagen mitten im Nirgendwo einer abgelegenen Region der irischen Midlands. Während der melancholische Will mit seinen etwas unbeholfenen Erziehungsversuchen und die aufgeweckte Stacey mit ihrer vorlauten Art das Zusammenleben zunächst nicht gerade einfach machen, nähern sich die Zwei schon bald immer stärker einander an. Doch die zunehmende Vertrautheit wird nach wie vor vom Geheimnis um den Grund für Wills Gefängnisstrafe überschattet.

Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit Autor und Regisseur Mark Noonan seine Themen schon bei seinem Langfilmdebüt unaufgeregt zu einem Gesamtwerk verwebt. Dabei mögen ihm das nicht zuletzt budgetbedingte Verpflichten von Freunden und Bekannten vor und hinter der Kamera sowie das Drehen in der irischen Heimat den Rücken gestärkt haben, obgleich er seine Kindheit nicht in einer solch tristen Gegend wie dem als zentraler Handlungsort des Films dienenden Trailerpark verbracht hat. Umso bemerkenswerter ist es, dass Noonan es gemeinsam mit seinem Kameramann Tom Comerford vorzüglich schafft, diesem wesentlichen Schauplatz mit malerischen, ausgewaschenen Bildern eine einnehmend-ambivalente Aura zwischen Trostlosigkeit und friedlich-abgeschiedener Schönheit zu verleihen.

Jene Stimmung ist zugleich auch sinnbildlich für den Gemütszustand der beiden äußerst authentischen Protagonisten. Nach individuellen Schicksalsschlägen werden sie, teilweise nicht ganz freiwillig, mit ungewohnten Lebensumständen konfrontiert, die sie bisweilen vor Sackgassen verzagen lassen, jedoch auch einen stetig – mal mehr, mal weniger stark – aufblitzenden Hoffnungsschimmer für die Zukunft mit sich bringen. Was «Familienbande» bei der Entwicklung der komplexen Beziehung zwischen Onkel und Nichte besonders auszeichnet, ist die Natürlichkeit, mit der die zwei Hauptfiguren aufwarten können. Zwar gibt sich Stacey für ihr Alter ab und an vielleicht einen Tick zu schlagfertig, doch hat man dennoch stets das Gefühl, echte Menschen und keine filmischen Abziehbilder wandelnder plakativer Charaktereigenschaften agieren zu sehen.

Das wunderbar ausgearbeitete und immer wieder von trockenem Humor durchzogene Verhältnis der beiden ungleichen Verwandten driftet, anders als viele thematisch ähnlich gelagerte Hollywood-Vorbilder, nie in kitschige Gefühlsduselei ab, weiß aber trotz des nüchtern-realistischen Erzähltons auf ganz eigene Weise zu berühren. Gerade am Ende, das sich als logische Konsequenz nahtlos in die glaubhafte Handlung einfügt und keine Abkürzung zu einem erzwungenen 0815-Happy-End nimmt, weiß Noonan die Stärken seiner lebensnahen Narration voll auszuspielen.

Eine wichtige Voraussetzung für das Harmonieren des Figurenduos ist jedoch die jederzeit deutlich werdende, perfekte Chemie zwischen den beiden fesselnden Hauptdarstellern Aidan Gillen und Lauren Kinsella. Gillen erlangte hauptsächlich mit zwielichtigen TV-Rollen wie der des Tommy Carcetti in «The Wire» oder des Lord Petyr „Littlefinger“ Baelish in «Game of Thrones» weltweite Berühmtheit und war auch zuletzt als Bösewicht in der Jugendbuchadaption „Maze Runner - Die Auserwählten in der Brandwüste“ zu sehen. Doch in «Familienbande» beweist er als einsamer, etwas unnahbar scheinender, im Kern jedoch herzensguter Will, der ernsthaft um das Wohl seiner Nichte besorgt ist und sich nach emotionaler Nähe zu einem anderen Menschen sehnt, dass ihm nicht nur finstere Rollen liegen. Die überaus talentierte Kinsella kann ihrem älteren Co-Star allerdings stets die Stirn bieten und macht so den regelmäßigen Schlagabtausch der Charaktere auf Augenhöhe überhaupt erst möglich.

Da das Zusammenspiel der Protagonisten auch dank ihrer Darsteller so gut aufgeht und gleichsam unterhaltsam und anrührend ist, hätte man sich jedoch durchaus einen länger andauernden Einblick in ihr gemeinsames Leben vorstellen können. So wird gerade aufgrund der Qualitäten des Films die kurze Laufzeit von lediglich 80 Minuten am Ende zum einzigen wahren Kritikpunkt.

Fazit: «Familienbande» ist ein bewusst gemächlich erzähltes und tragikomisches Drama vor faszinierender Kulisse, das seine Zuschauer mit einfühlsamer Natürlichkeit und frei von Klischees an einer nicht ganz gewöhnlichen Familiengeschichte teilhaben lässt. Mark Noonans Gespür für Authentizität und dafür, unter Verzicht auf übererklärende Szenen genau die richtigen Leerstellen zu lassen, macht sein Langfilmdebüt zu einer kleinen Perle des irischen Indie-Kinos, die sich auf hervorragende Art weder an kitschige Hollywood-Konventionen anbiedert noch als sperriges Arthouse-Kino daherkommt.

«Familienbande» ist ab dem 19. November in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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