Die Kritiker

«Casting JonBenet»: True Crime, Staged Casting

von

Die herausragende Netflix-Doku «Casting JonBenet» findet einen genialen Ansatz, um sich einem grausamen Todesfall zu nähern.

Filmfacts «Casting JonBenet»

  • Regie: Kitty Green
  • Produktion: Kitty Green, Scott Macaulay, James Schamus
  • Musik: Nathan Larson
  • Kamera: Michael Latham
  • Schnitt: Davis Coombe
Das Genre True Crime boomt nun schon seit Jahren – und hat mit «Tiger King» (alias «Großkatzen und ihre Raubtiere») angeblich kürzlich ein neues Reichweitenhoch erlebt (wir berichteten). Die Netflix-Miniserie generierte immensen Hype in den sozialen Netzwerken sowie in diversen Podcasts – doch neben riesigen Klickzahlen und viel Begeisterung seitens des Publikums erntete «Tiger King» auch vereinzelte, aber umso schärfere Kritik. Unter anderem wurde kritisch beäugt, dass die Serie aufgrund ihrer Erzählweise, ihres Schnitts und dessen, wo das Dokuteam seine thematischen Schwerpunkte setzt, ihre verbrecherischen Protagonisten mitunter glorifiziert oder zumindest als faszinierend-kauzig verharmlost.

Spätestens, als herauskam, dass das Dokuteam im Schnitt den gewaltigen Rassismus des früheren Großtier-Zoo-Betreibers Joe Exotic raus gefiltert hat, kippte im US-Feuilleton die Stimmung und das zwischenzeitliche Internetphänomen bekam für viele Mitglieder der Fachpresse einen bitteren Beigeschmack. Dabei ist «Tiger King» längst nicht die erste True-Crime-Doku, die sich solch einen Kritikpunkt gefallen lassen muss – und hier enden die potentiellen Brandherde dieses speziellen Dokugenres nicht einmal. Viele True-Crime-Projekte werden zudem als reißerisch kritisiert, Formate zu aktuellen Verbrechen gelten mitunter gar als Gefahr für eine korrekt ablaufende, unvoreingenommene Ermittlung. Und neulich geriet die Dokumentation «Into the Deep» in die Branchenschlagzeilen, weil Netflix beschlossen hat, sie nach ausführlicher Kritik mehrerer Beteiligter nicht zu veröffentlichen.

Selbstredend gerät längst nicht jede True-Crime-Doku aufgrund dieser Aspekte in die Kritik – dessen ungeachtet haftet diesem äußerst populären Genre unweigerlich ein spezieller Beigeschmack an, der womöglich Mitgrund dafür ist, weshalb es vollkommen vernarrte True-Crime-Fans gibt und jene, die True Crime weitestgehend vermeiden und laut die Nase rümpfen. True-Crime-Gelegenheitskonsumierende sind (zumindest gefühlt – und die gefühlte Wahrheit ist ja laut vielen True-Crime-Produktionen besonders wichtig!) eine Rarität. Trotzdem darf man nicht vergessen, dass True-Crime-Doku nicht gleich True-Crime-Doku ist: Selbst wenn viele populäre Genrevertreter aus dem gleichen Holz geschnitzt sind, existieren sehr wohl glänzende Exempel dafür, dass auch dieses Genre abwechslungsreich sein kann. Die Meta-True-Crime-Doku «Casting JonBenet» ist ein solches Paradebeispiel – und obendrein vermeidet sie sämtliche der üblichen Genre-Fettnäpfchen.

Thematisiert wird der bis heute ungelöste Todesfall der sechsjährigen JonBenét Ramsey, die am 25. Dezember 1996 im Keller ihrer Eltern leblos, mit gebrochenem Schädel und Strangulationsmerkmalen aufgefunden wurde. Acht Stunden zuvor fanden die Eltern (angeblich?) einen mehrere Seiten langen, von Hand geschriebenen Erpresserbrief und meldeten ihre Tochter vermisst. Statt die Angehörigen der Kinder-Schönheitskönigin, Bekannte und zahlreiche ehemalige Ermittler vor die Kamera zu zerren und den Fall neu aufzurollen, indem vor laufender Kamera alte Wunden aufgerissen werden, verfolgt «Casting JonBenet» einen ebenso ungewöhnlichen wie faszinierenden Ansatz:

Regisseurin Kitty Green («The Assistant») lädt professionelle Schauspielerinnen und Schauspieler sowie Laien aus der Region, in der sich der mysteriöse Fall ereignete, zum Casting ein. Sie sprechen für Rollen in einer szenischen Nachstellung des Todesfalls vor – und während des Castings werden sie zu ihren Erinnerungen an den Medienrummel um den Fall sowie über ihre eigenen Theorien befragt. «Casting JonBenet» ist das komplexe, zum Nachdenken anregende Pastiche aus szenischer Nachstellung, Casting-Interviews und Probeszenen.

Kitty Green schafft so eine wertvolle, medienkritische Distanz, die sonst nur äußerst selten in solchen Dokumentationen gegeben ist. Dadurch, dass kein Wühlen in alten Materialien vorgenommen wird und keine tränenzieherischen Interviews mit Betroffenen gezeigt werden, sondern mehr oder minder unbeteiligte Menschen (einen Ex-Ermittler hat Green dann doch in die Doku gelassen) sehr offen theoretisieren, unterstreicht die Regisseurin, dass ihr Film (wie praktisch jeder andere Genrevertreter) nur eines ist: Retrospektive Spekulation.

Zusätzliche Substanz gewinnt «Casting JonBenet» dadurch, dass auf sehr auffällige Weise die verschiedenen Erzählebenen des Films verschwimmen – wodurch Green ihr Publikum noch stärker herausfordert, das, was es konsumiert, zu hinterfragen. Sie zeichnet nicht nur ein umfassendes Bild sämtlicher Mutmaßungen rund um den Fall JonBenét Ramsey, sondern auch ein Porträt unserer Besessenheit mit rätselhaften Todesfällen. Zudem skizziert sie den Teufelskreis öffentlicher, ungezügelter Theoretisierung.

Aufgrund einer eiskalten, subtil beunruhigenden Regieführung gerät Green dieses unkonventionelle Filmexperiment äußerst eindringlich, und das, obwohl sie auf den genretypischen Einsatz effekthascherischer Musik verzichtet.

Doch das, was am längsten nachhallt, sind weder die eisigen Bilder, noch die eskalierenden Spekulationen – und es ist nicht einmal das grausame Schicksal JonBenét Ramseys. Sondern die Erkenntnis, dass das, was wir nach Erhalt von gefährlichem Halbwissen über einen Kriminalfall denken, oft weniger über den Fall verrät, als über uns. So reiht Kitty Green in «Casting JonBenet» direkt hintereinander, wie Menschen dieselben Aussagen und Macken des Ehepaares Ramsey basierend auf eigenen Erfahrungen als entlarvend böse oder entwaffnend menschlich bezeichnen …

Fazit: Die Anti- und Meta-True-Crime-Doku «Casting JonBenet» ist ein glänzendes Beispiel dafür, wie klug, selbstkritisch und intellektuell anregend True-Crime-Dokus sein könnten, wenn sie denn nur wollten.

«Casting JonBenet» ist auf Netflix abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/117829
Finde ich...
super
schade
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelRyan Murphys «Hollywood» debütiert nur untertiteltnächster ArtikelM wie Mai, oder: Mehr frisches Programm trotz Corona
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel
Weitere Neuigkeiten

Optionen

Drucken Merken Leserbrief




E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung