Hingeschaut

Multitasking – Der Abend. Oder: Kultur, voll vernetzt?

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Die «Neo Magazin»-Rubrik «PRISM is a Dancer» trifft '«Citizenfour» light' trifft Theaterkunst trifft crossmediales Multitasking-Gewusel: Das WDR-Überwachungsexperiment «Supernerds».

Überwachung geht jeden etwas an. Ich versuche mit dem Stück und dem ganzen multimedialen Aufwand, den Menschen wirklich begreiflich zu machen, was Überwachung bedeutet. Theoretisch etwas zu wissen, sickert nicht so in den Körper ein wie eine Theatererfahrung. Die Trägersubstanz von Theater ist Emotion und somit zur Bewusstmachung sehr geeignet.
Regisseurin Angela Richter
Innovation und Ambition. Es kommt vor, dass die deutsche Fernsehlandschaft monatelang vor sich hinvegetiert, ohne einen nennenswerten Funken auch nur einer dieser beiden Zutaten aufzuweisen. Und dann kommt plötzlich so eine Sendung wie «Supernerds» daher, die so anmutet, als wollten die Verantwortlichen eine ganze Jahresration an Bemühungen auf einen Schlag nachholen. Denn das WDR-Experiment zum Thema Überwachung ist vieles auf einmal. Vornehmlich: Ein crossmedialer Weckruf und ein passionierter Versuch, Theaterübertragungen einem jüngeren Publikum schmackhaft zu machen. Generell sollte es begrüßt werden, wenn eine öffentlich-rechtliche Anstalt mit Gebührengeldern mal etwas anderes unternimmt, als schlicht das handelsübliche Programm abzuspulen. Und alles, was der Theaterkultur zugutekommt, kann so übel auch nicht sein. Leider erdrücken die zahlreichen Ansätze, die «Supernerds» verfolgt, das Gesamtkonzept und lassen den groß beworbenen Abend vergleichsweise belanglos dastehen.

Aber der Reihe nach: Wer am Donnerstag, dem 28. Mai 2015, zur besten Sendezeit zum WDR schaltete, wurde geradezu überrollt. Der ARD-Regionalsender für Nordrhein-Westfalen meldete sich live aus dem traditionsreichen Theater 'Schauspiel Köln', wo Moderatorin Bettina Böttinger in ruhiger Stimme, aber mit zügigem Tempo den Zuschauer instruierte: Was folgt ist eine Mischung aus Live-Magazin, in dem Experten über Whistleblower und Abhörmethoden reden sowie die Sicherheitslücken unserer modernen Kommunikationsmittel vorführen. Und es ist eine Theaterübertragung. Das von den TV-Kameras begleitete Theaterstück ist jedoch kein alltägliches, auf das Publikum einprasselndes Schauspiel, sondern eines, das die im Saal sitzenden Zuschauer mit interaktiven Elementen überraschen will: Basierend auf den Kontaktdaten, die zum Kauf eines Tickets übermittelt werden mussten, wird im Leben des Publikums gestöbert, außerdem werden Smartphones gehackt und im Web abrufbare Infos gesammelt.

Als wäre dies nicht schon ambitioniert genug, werden kurz nach Sendungsbeginn TV-Zuschauer dazu eingeladen, an einer 'Suddenlife Game'-Experience mitzumachen oder Freunde damit zu überraschen, dass sie plötzlich Teil eines interaktiven Minigames sind, welches die Grenzen zwischen den realen Erfahrungen eines Whistleblowers mit der Fiktion eines viralen Spiels verwischt. Und ganz nebenher lässt sich im Web ein Livestream des Theaterstücks verfolgen – so dass man nichts versäumt, wenn im Fernsehen aus der Theaterübertragung wieder ein Live-Magazin wird. Alternativ gibt es eine Audioversion beim Kulturradio WDR 3 zu hören. Oh, und mehrmals im Lauf der 90-minütigen Sendung werden Interessenten dazu angehalten, online über das Schicksal des Theaterpublikums abzustimmen. Uffff, wenn das kein Multitasking ist, was dann?

Das Hybrid-Projekt der Theaterregisseurin Angela Richter und des Produzenten Christian Beetz muss sich wirklich nicht vorwerfen lassen, in Sachen Crossmedialität und Interaktivität an Aufwand gespart zu haben. Und im Gegensatz zu manch anderen interaktiven Fernsehsendungen ist bei «Supernerds» dieser multimediale Aspekt nicht aufgesetzt, sondern eine schlüssige Weiterführung des zentralen Themas des titelgebenden Theaterstücks, das noch bis zum 10. Juni in Köln aufgeführt wird. Das Problem ist jedoch, dass die Ideen zwar zahlreich sind, deren Umsetzung im Gegenzug dafür oberflächlich.

Der wohl blutärmste Aspekt an «Supernerds»? Ausgerechnet die 'Streiche' mit dem Saalpublikum. Während des Stücks werden die Zuschauer vom Team angerufen – schließlich wurde beim Kartenbestellen die Telefonnummer geteilt –, es wird gezeigt, wer links und wer rechts vom Rhein lebt und es wird gesagt, dass ein ungenanntes Mitglied des Publikums einst eine Webseite über seine Familie erstellt hat. Viele dieser Kniffe begrüßen die Saalzuschauer mit ertappten Lachern – so beeindruckend die Webrecherche der «Supernerds»-Macher zuweilen also ist, deren schockierende Wirkung verlief bei der zahmen Umsetzung im Sande. Erst, sobald die Handykameras einiger Theatergänger gehackt werden, kommt es zum großen Staunen – da aber gerade dieser Teil des Experiments abgehetzt daherkommt und sehr spielerisch umgesetzt wird, verpufft auch dieser Moment.

Alles und jeder wird abgehört. Was das für eine Demokratie bedeutet, ist den meisten Menschen nicht klar.
Regisseurin Angela Richter
Da wäre es weise gewesen, zu den öffentlich-rechtlichen Kollegen vom «Neo Magazin Royale» zu blicken, wo die Rubrik «PRISM is a Dancer» im Grunde genommen nichts anderes darstellt – bloß dass Jan Böhmermann seine Opfer intensiver auf die Folter spannt. Er verpackt seine Datenspionage noch immer unterhaltsam, führt den Punkt 'Das Internet vergisst nie' zugleich aber mit mehr Nachdruck vor. Ähnliches verwässert wirken die Info-Strecken in der TV-Ausstrahlung: Wer «Citizenfour» nicht gesehen hat, Spielfilme wie «Der Staatsfeind Nummer eins» stets als reine Fiktion abgetan hat und in den Nachrichten stets wegschaltet, wenn es um Abhörskandale geht, wird durch die kurz, bündig und sachlich dargestellten Fakten wohl überrascht. Und da der durchschnittliche WDR-Zuschauer eher älteren Semesters ist, wird es sicher einige «Supernerds»-Zuschauer geben, die am Donnerstagabend etwas gelernt haben. Andererseits: Das sehr exzentrische Theaterstück und der jugendliche Titel sind nicht gerade toller Lockstoff für TV-Nutzer, die mit den behandelten Themen noch nie in Kontakt gekommen sind. Seine volle Wirkung konnte «Supernerds» so also kaum entfalten.

Die Tücken der Web- und Überwachungsthematik wurden gegen Schluss dann ungewollt deutlich: Dass die Webseite zwischenzeitlich aufgrund des unerwartet hohen Zuspruchs lahmte? Geschenkt. Dass ein Studioexperte der Moderatorin Bettina Böttinger die Funktionsweise von Spy-Software vorführt, indem er MSPY nutzt, um ihr Smartphone zu durchleuchten? Angesichts des kürzlich ereigneten Hackerangriffs auf MSPY, dank dessen die damit gesammelten Daten im Netz auffindbar sind überaus unglücklich.

Fazit: Ideenreich, ambitioniert, jedoch unkonzentriert. Solche Multimedia-Experimente und Kultur-Events wie «Supernerds» darf es gern öfter geben. Dann aber bitte stringenter als in diesem Fall – denn bei allen gebotenen Ansätzen kam dieses Überwachungsexperiment viel zahmer daher, als es hätte sein dürfen.

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