Interview

‚Ein Abschied auf VHS – und eine Botschaft gegen den Hass‘

von

Regisseurin Chiara Smbuchi über ihren Film «Das Srebrenica Tape», das Vermächtnis eines Vaters und die emotionale Reise seiner Tochter Alisa.

Frau Sambuchi, wie sind Sie auf das beeindruckende Schicksal von Alisa und das Video ihres Vaters Sejfo aufmerksam geworden?
Nicht ich habe Alisas Geschichte entdeckt, sondern der niederländische Journalist Jaap Verdenius, der in einem Belgrader Trödelladen eine Kopie einiger Szenen aus Sejfos Film für Alisa fand. Nach langer Recherche konnte er Kontakt zu ihr aufnehmen. Es war die Produzentin des Films, Antje Boehmert, die mir einige Jahre später vorschlug, diesen Film über Alisa zu drehen.

Der Film «Srebrenica Tage – Liebesbotschaft aus dem Krieg» basiert auf VHS-Aufnahmen aus einer Zeit des Krieges. Was war Ihre erste Reaktion, als Sie Sejfos Stimme und seine Botschaft auf dem Material hörten?
Als ich den Film von Sejfo zum ersten Mal sah, war ich sehr beeindruckt. Besonders bewegend fand ich die Sorgfalt, mit der Sejfo für seine Tochter Bilder von Ecken in Srebrenica filmte, die für Alisa eine wichtige Rolle spielten, wie ihren Weg zur Schule, den Garten zu Hause, den Alisas Familie mit den Nachbarn teilte, den Platz in Srebrenica und den Fluss, in dem Sejfo und Alisa vor dem Krieg häufig zusammen badeten.

In dem Video sind auch Grüße an Alisa von ihrer Großmutter, ihren Onkeln und einigen Freunden der Familie zu sehen. Das Drama des Krieges wird nicht gezeigt, denn Sejfo weiß, und das sagt er Alisa auch zu Beginn der VHS, dass die verstümmelten Leichen von den Explosionen und die Krankenhäuser voller Verwundeter für seine damals neunjährige Tochter unerträglich wären. Auf den ersten Blick sind viele der im Video gezeigten Situationen heitere, unbeschwerte Bilder. Doch je weiter man Sejfos Film anschaut, desto mehr kehrt sich die Perspektive um. Man spürt immer stärker, dass seine Versuche, Alisa lustige Situationen darzustellen, schwieriger für ihn wurden, bis die Atmosphäre völlig kippt. Das Video, das am Anfang eigentlich ein Gruß an seine geliebte Tochter sein sollte, wird zu einem bewussten Abschied. Sejfo versteht, dass seine Chancen, lebend aus der Enklave herauszukommen, immer geringer werden. Seine Art, mit Alisa zu sprechen und für Alisa zu filmen, zeigt dies sehr deutlich. Der Gedanke an diesen jungen Mann, der in einer Enklave eingesperrt ist und weiß, dass seine Tochter wahrscheinlich ohne ihn aufwachsen muss, ist für mich herzzerreißend.

Wie haben Sie den Zugang zu Alisa Smajlović gefunden – und wie war ihr erster Eindruck, als sie von diesem Projekt erfuhr?
Alisa und ich haben viele Male per Zoom miteinander gesprochen, bevor wir uns im Sommer 2022 in Italien persönlich treffen konnten, wo sie mit ihrer Familie Urlaub machte. Ich wusste, dass sie weder mit einer serbischen noch mit einer bosnischen Regisseurin an diesem Film arbeiten wollte, denn ein möglichst nicht-involvierter Blick auf die Geschichte hatte für sie absolute Priorität. Die große Frage war jedoch, ob wir eine gemeinsame, emotionale Sprache für den Film finden würden. Voraussetzung dafür war es, dass sie mir vertrauen würde, denn sonst wäre die Zusammenarbeit an einem so persönlichen Film gescheitert. Wir verbrachten in Italien zwei Tage zusammen, machten lange Spaziergänge, redeten stundenlang. Wir sprachen aber nur teilweise über das Thema des Films, oft erzählten wir uns einfach aus unseren Leben, Reisen und Plänen für die Zukunft. Das war ein grundlegender Schritt, denn so konnten wir Gemeinsamkeiten in unseren Biographien ausmachen, auch wenn sie sehr unterschiedlich waren.

Wir leben zum Beispiel beide weit weg von dem Ort, an dem wir geboren und aufgewachsen sind und teilen die Sorge, unseren Töchtern dennoch so viel wie möglich von unserer Sprache und Kultur weitergeben zu können. Wir kennen beide die Sehnsucht nach dem Ort, an dem wir aufgewachsen sind, oder, wenn wir uns in unserer Heimat befinden, das Vermissen des Ortes, wo hier heute leben.

Was auch sehr half, eine emotionale Brücke zwischen Alisa und mir zu schaffen, war die italienische Sprache: für mich ist es die Muttersprache, für sie die Sprache ihrer Familie, da ihr Mann Italiener ist und sie italienisch zu Hause sprechen.

Der Film ist mehr als eine historische Aufarbeitung, er ist auch eine sehr persönliche Vater-Tochter-Geschichte. Wie haben Sie diese beiden Ebenen filmisch miteinander verbunden?
Die Vater-Tochter-Geschichte mit der historischen Aufarbeitung zu verbinden, war für mich eine der größten Herausforderungen. Zwar steht die Beziehung zwischen Alisa und Sejfo im Mittelpunkt des Dokumentarfilms, aber es war auch entscheidend, über die Geschichte von Srebrenica zwischen 1993 und 1995 zu berichten. Vor allem im Schnitt haben wir viel darüber nachgedacht, wie wir die richtige Balance zwischen dem historischen Aspekt und der persönlichen Geschichte finden können. Wir haben am Ende beschlossen, nur über die historischen Fakten im Film zu berichten, die notwendig sind, um Sejfos und Alisas Biografien zu verstehen. Um dies zu erreichen, mussten wir natürlich auf die Erzählung vieler Aspekte vom Bosnienkrieg verzichten. Die Geschichte von Sejfo und Alisa widerspiegelt das Schicksal Tausender Kinder, die während dieses Krieges ohne ihre Väter aufgewachsen sind. Diesem Aspekt wollten wir so viel Raum wie möglich geben. Denn die historische Aufarbeitung findet in unserem Film durch die persönlichen Geschichten unserer Protagonistinnen statt. Sejfos VHS erlaubt dies, denn er erzählt darin vom Bosnienkrieg bis zum Völkermord, dem er selbst zum Opfer fallen wird.

Sejfos Tape wirkt wie ein Akt des Widerstands gegen das Vergessen. Welche Rolle spielt dieses Heimvideo für Sie als Filmemacherin im dokumentarischen Kontext?
Für mich ist das Video von Sejfo kein einfaches Homevideo, denn es hat eine ausgeprägte ästhetische Qualität und eine durchdachte Dramaturgie. Sejfo schafft immer eine präzise Kulisse, um zu seiner Tochter zu sprechen, verwendet oft dafür Musik, unter anderem seine Lieblings-Rocksongs. Sein Bericht über Srebrenica ist meiner Meinung nach eindeutig das Ergebnis ästhetischer und filmischer Entscheidungen. Das ist der große Mehrwert dieser VHS: Vor allem in den Monaten vor dem Fall von Srebrenica ist sich Sejfo bewusst, dass er seiner Tochter, aber auch der Welt, ein wichtiges Dokument über die Ereignisse in Srebrenica hinterlässt. Ich erkenne in ihm eine große Kreativität und die Fähigkeit, heitere mit härteren Momenten zu verbinden, in denen er Nachrichten überbringt, die für Alisa sicherlich schwer zu akzeptieren sind. Doch vor oder nach einer schweren Nachricht bringt er sie zum Lachen und das macht das Ganze für Alisa erträglich, bis heute. Wir haben im Schnitt immer versucht, Ausschnitte aus seinem Film zu zeigen, ohne den Rhythmus der Bilder oder die Intention zu verändern. Gelegentlich haben wir selbst manche seiner Kameraeinstellungen noch einmal gedreht, die sind dann Übergange zwischen Sejfos Film und Alisas Reise. Seine Arbeit ist für mich nicht einfach nur Archivmaterial: er schuf einen Film mit einer eigenen Berechtigung.

Alisa kehrt im Film an die Orte ihrer Vergangenheit zurück. Wie herausfordernd war es, diese sehr emotionalen Momente filmisch zu begleiten – und wie haben Sie als Team dabei Rücksicht genommen?
Diese Reise war für Alisa eine Achterbahn der Gefühle. Als ihre Begleiterin und Regisseurin des Dokumentarfilms über ihre Familiengeschichte, war die Drehreise auch für mich sehr emotional. Die Dreharbeiten schwankten zwischen Momenten, in denen Alisa eine unglaubliche Stärke zeigte. An solchen Tagen gaben die Begegnungen mit Freunden und Verwandten ihres Vaters ihr Energie. Diese wechselten sich aber mit Momenten tiefer Traurigkeit ab. Meine Rolle in diesen Phasen war es, ihr den nötigen Raum für Pausen zu geben, den Drehplan nach und nach zu ändern, ihr die Möglichkeit zu geben, das Erlebte zu reflektieren, aber auch da zu sein, wenn sie eine vertraute Ansprechpartnerin brauchte, oder einfach neben ihr zu schweigen, weil jedes Wort zu viel gewesen wäre.

Der Genozid von Srebrenica ist eines der größten Menschheitsverbrechen in Europa nach 1945. Was war Ihnen in der filmischen Aufarbeitung besonders wichtig, um der historischen Dimension gerecht zu werden?
Um der historischen Dimension gerecht zu werden, war es mir besonders wichtig, eine Dramaturgie zu schaffen, die die Chronologie der historischen Ereignisse bis zum Völkermord verdeutlicht und das brutale Massaker an über achttausend Menschen als Höhepunkt des blinden Hasses greifbar macht. Um diese Steigerung der Ereignisse filmisch zu erzählen, haben wir uns für kurze Collagen aus Nachrichtensendungen entschieden. Ziel davon war es, eine filmische Sprache zu finden, die den Krieg von außen betrachtet. Es ist die typische Bildsprache der aktuellen Berichterstattung: sie besteht aus großen Totalen, kurzen Statements von Politikern und Generälen, schnellen Schwenks.

Parallel dazu entwickelt sich im Film die Hauptsprache von «Das Srebrenica Tape», die aus Nahaufnahmen, Alisas Begegnungen mit Freunden und Verwandten ihres Vaters besteht, genauso wie aus Beobachtungen von Landschaften und Orten, die für Alisas Biographie von Bedeutung sind. Auf diese Weise haben wir versucht, die historische Dimension mit der privaten zu verbinden.

Alisas Zitat am Ende des Films – „Er zeigte mir, auf Vorurteile, ethnischen und religiösen Hass zu pfeifen.“ – ist ein starkes Statement. Welche Wirkung wünschen Sie sich mit dem Film in der heutigen gesellschaftlichen Debatte?
Alisa klagt die Sinnlosigkeit ethnischer Konflikte an, sie versucht gar nicht erst, sie zu verstehen, denn allein dieser Schritt wäre für sie ethisch falsch. Er würde nämlich dazu führen, dass wir die Handlungen der einen oder anderen Seite rechtfertigen. Alisa entscheidet sich dafür, auf den Hass und die dadurch ausgelöste Wut zu pfeifen. Die vielleicht mutigste Tat meiner Protagonistin besteht darin, dem Hass auf die Mörder ihres Vaters nicht nachzugeben, weiter zu gehen und sich vom ganzen Konflikt zu distanzieren. Menschlich leidet sie mit jedem Opfer dieses Krieges, egal ob serbisch oder bosnisch.

Gleich nach ihrer Ankunft in Sarajevo, in einem Café sitzend, sagt sie, sie wolle warten, um mit ihrer Tochter Sofia über den Bosnienkrieg zu sprechen. „Nur weil es im ehemaligen Jugoslawien Krieg gab, heißt das nicht, dass sie die Welt hassen soll.“ Das ist für mich ihre wichtigste Botschaft. Wenn Grausamkeit und Schrecken so dominant sind wie heute, geht es darum, sich nicht auf die Seite der einen oder anderen Fraktion eines Konflikts zu schlagen, nicht in die Falle des Hasses zu tappen. Das ist die Freiheit, für die sich Alisa entschieden hat. Es ist eine Wahl, die wir alle haben.

Gibt es eine Szene oder ein Moment während der Dreharbeiten, der Sie persönlich besonders bewegt oder geprägt hat?
Es gibt zwei Momente, die mich besonders bewegen. Der erste ist der Moment, in dem Alisa zu ihrem Elternhaus in Srebrenica zurückkehrt. Als wir diese Szene gedreht haben, wirkte sie gleichzeitig sehnsüchtig, glücklich aber auch tief traurig. Auch dort haben wir manche von Sejfos Kameraeinstellungen neu gedreht und unsere Bilder mit seinen montiert. Auf diese Weise entsteht die filmische Illusion, dass Alisa ihrer Vergangenheit begegnet, ihren Vater im Garten wieder sieht, aber nur aus der Ferne, denn sie kann Sejfos Welt nicht berühren.

Ein zweiter, für mich sehr rührender Moment ist die Szene, in der Alisa ihrer Schwester begegnet. Nach Sejfos Abschied von seiner Tochter unmittelbar vor dem Fall der Stadt, kehrt Sejfo in unserem Film zurück, um Alisa eine letzte Botschaft zu übermitteln. Er zeigt ihr Bilder eines Babies: es ist Fatima, Alisas Schwester, die in der Enklave geboren wurde. Alisa trifft sie im Film. Für mich stellt dieser Moment ein kleines Wunder dar: Sejfo kann sich nicht retten und für Alisa weiterhin ein Vater sein, aber er hinterlässt ihr einen Teil von sich, eine Schwester, die es schafft, den Völkermord zu überleben und die auch, wie Alisa sagt, für die allerschönste Erinnerung an Sejfo ist.

Vielen Dank für das aufschlussreiche Gespräch!

Am 9. Juli, 22:50 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek.

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