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«World News» ohne den Rest der Welt

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Die Marginalisierung des Globalen Südens in der reichweitenstärksten Nachrichtensendung der USA («ABC World News Tonight»).

Gerade einmal etwa drei Prozent der Sendezeit der reichweitenstärksten US-amerikanischen Nachrichtensendung, der «ABC World News Tonight», entfielen im Jahr 2022 auf den Globalen Süden, obwohl dort etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben. Der Bürgerkrieg im Jemen, den die Vereinten Nationen als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“ bezeichneten und der Bürgerkrieg in der nordäthiopischen Region Tigray, der als „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“ gilt, wurden in den Nachrichten vollständig ignoriert.


Abb. 1 Anzahl der Berichte, in denen die jeweiligen Länder (bzw. politischen Entitäten) im Jahr 2022 in den US-amerikanischen «ABC World News Tonight» erwähnt wurden.

In den vergangenen Monaten erschienen bereits Beiträge über die Berichterstattung der wichtigsten deutschsprachigen Fernsehnachrichten in Deutschland (Tagesschau), Österreich (Zeit im Bild [ZIB] 1) und der Schweiz (SRF Tagesschau). Ein Nachrichtenformat mit vergleichbarer führender Stellung (mit einem Marktanteil von 45-60 Prozent) gibt es in den USA nicht. Die höchsten Einschaltquoten unter den Fernsehnachrichten der Networks in den Vereinigten Staaten verzeichnen die «ABC World News Tonight». In der Season 2022/23 wurden die «World News Tonight» mit Hauptmoderator David Muir von etwa 8 Millionen Menschen verfolgt und rangieren damit unter den drei großen Hauptnachrichtensendungen vor den «NBC Nightly News» und den «CBS Evening News», die ein ähnliches Sendungsschema aufweisen. Dieses unterscheidet sich im Vergleich zu deutschsprachigen Nachrichtenformaten unter anderem auch dadurch, dass die jeweils halbstündigen Sendungen von Werbeblöcken unterbrochen werden. Im Falle der «ABC World News Tonight», die täglich um 18:30 Uhr (Eastern Time Zone) ausgestrahlt wird, enthält die 30-minütige Sendung etwa 12 Minuten Werbung. Für die vorliegende Untersuchung wurden 346 Ausgaben der «World News Tonight» im Jahr 2022 ausgewertet, was etwa 100 Stunden Sendezeit an reinen Beiträgen (also ohne Werbung sowie ohne Intro und Outro) entspricht.

Die «World News Tonight» sind zu einem sehr großen Teil von einer Berichterstattung geprägt, die sich als „Sensationsjournalismus“ bezeichnen lässt. Die Sendung greift zahlreiche Boulevardthemen auf. Gewaltverbrechen (insbesondere Morde mit Schusswaffen), familiäre Tragödien, Entführungen, Unglücke und Unfälle gehören zu den wiederkehrenden Themen und bestimmen zu einem großen Teil die Beiträge, die stark auf emotionale Wirkung ausgerichtet sind. Zu den Topthemen gehören regelmäßig Berichte über Naturereignisse wie Wirbelstürme (Tornados), heftige Schneefälle und Winterstürme (Blizzards), Lauffeuer, Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürren, die über das Land hereinbrechen und in der Regel mit großer Dramatik vermittelt werden.

Grundsätzlich ist die Berichterstattung der Sendung ausgesprochen amerikazentrisch und deutlich an innenpolitischen Themen orientiert. Während in der deutschen und Schweizer «Tagesschau» sowie der österreichischen «Zeit im Bild» im Jahr 2022 zwischen 42 und 45 Prozent der Sendezeit der Beiträge auf das jeweilige eigene Land entfielen, waren es bei den ABC «World News Tonight» etwa 75 Prozent (Abb. 2). Auf den restlichen Globalen Norden entfielen etwa 22 Prozent, auf den gesamten Globalen Süden lediglich etwa 3 Prozent (in den deutschsprachigen Nachrichten waren es jeweils ca. 10 Prozent).


Abb. 2 Geografische Verteilung der Sendezeit in den ABC «World News Tonight» im Jahr 2022

Innerhalb des Globalen Südens ist außerdem auf eine Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Länder der MENA-Region (MENA = Middle East and North Africa) und China hinzuweisen. Ohne diese beiden geografischen Räume widmeten die «World News Tonight» lediglich etwa ein Prozent ihrer Sendezeit dem restlichen Globalen Süden.

Dass es sich hierbei nicht um eine Ausnahme, sondern den Regelfall unter den großen US-amerikanischen Nachrichtensendungen handelt, legen die Ergebnisse einer früheren Untersuchung der «CBS Evening News» für das Jahr 2015 nahe.


Abb. 3 Verteilung der Sendezeit nach Themen in den ABC «World News Tonight» im Jahr 2022
(Die Datenkurven für die Bürgerkriegsgebiete Tigray und Jemen können nicht angezeigt werden, da über diese keine Berichterstattung stattfand)


Wie in anderen Nachrichtenorganen im Globalen Norden prägte im Frühjahr 2022 der Ukraine-Krieg die Berichterstattung sehr stark. Im Vergleich zu den führenden deutschsprachigen Nachrichtensendungen ließ in den USA das Interesse am Ukraine-Krieg und seinen Auswirkungen (vor allem im Energiebereich) jedoch deutlich schneller nach, was mit der größeren geografischen Distanz, insbesondere aber auch mit der hohen Abhängigkeit europäischer Staaten von russischen Gaslieferungen zusammenhängen dürfte (Abb. 3). Insgesamt entfielen im Jahr 2022 etwa 19 Prozent der gesamten Berichtsendezeit der «World News Tonight» auf den Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen (in der deutschen und Schweizer «Tagesschau» waren es etwa 39 bzw. 32 Prozent, in der «ZIB 1» etwa 33 Prozent).


Abb. 4 Anzahl der Berichte, in denen ausgewählte Länder in den ABC «World News Tonight» im Jahr 2022 erwähnt wurden

Ereignisse mit weitreichenden gesellschaftlichen Auswirkungen im Globalen Süden blieben weitgehend unbeachtet. Dies gilt zum Beispiel für den doppelten Staatsstreich in Burkina Faso im Jahr 2022, den wirtschaftlichen Kollaps und die politische Krise in Sri Lanka, wie auch für die politische Krise und den landesweiten Notstand in Peru. Aber auch die „Jahrhundertflut“ in Pakistan, die etwa 33 Millionen Menschen obdachlos machte und selbst die dramatische soziopolitische Lage in Haiti, das geografisch näher an den Vereinigten Staaten liegt als das US-amerikanische Außengebiet Puerto Rico, wurden in den Nachrichten nahezu vollständig ignoriert.


Abb. 5 Sekunden Sendezeit in den ABC «World News Tonight» für ausgewählte Themen im Jahr 2022

Dies gilt ebenso für die globale Ernährungsunsicherheit, die im Zuge der Auswirkungen der Corona-Pandemie und des Ukraine-Krieges stark zugenommen hatte. Laut dem Welternährungsbericht der Vereinten Nationen stieg die Zahl der Hungernden im Jahr 2021 auf bis zu 828 Millionen Menschen, was einem Zuwachs um ca. 150 Millionen Menschen gegenüber der Vorpandemiezeit entspricht.

Das Thema Globaler Hunger wurde demgegenüber in den ABC «World News Tonight» sogar noch stärker marginalisiert als in den deutschsprachigen Medien, in denen es bereits nur eine sehr untergeordnete Rolle spielte. Selbst die eingeschränkte Ausfuhr von Getreide im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg sorgte in nur sehr begrenztem Maße für Interesse und wurde von zahlreichen Boulevardthemen überflügelt (Abb. 5). Mit insgesamt ca. 855 Sekunden Sendezeit wurde über das Hungerthema beispielsweise nur etwa halb so viel berichtet wie über die Ohrfeige, die Will Smith auf der Oscarverleihung Chris Rock gab. Über die britische Königsfamilie wurde sogar etwa 8 Mal umfangreicher berichtet als über den Hunger weltweit.

Dabei hatte der Journalist Matt Gutmann, der in der Sendung vom 11. Mai 2022 aus Kenia zugeschaltet wurde, über die desolate Hungersituation berichtet und in diesem Zusammenhang auch an die große Hungersnot am Horn von Afrika im Jahr 2011 erinnert, als dort über eine Viertel Million Menschen (darunter mehr als die Hälfte Kinder unter fünf Jahren) starben. Im Gespräch mit Moderator David Muir wies er darauf hin, dass die Spendenbereitschaft für Hilfsorganisationen, die sich gegen den Hunger einsetzten, durch die aktuelle Aufmerksamkeit für den Ukraine-Krieg und die Covid-19-Pandemie zurückzugehen drohte. Er erklärte:

David, aid groups telling me they are bracing for a famine here worse than the one here in 2011 in which more than 250,000 people died. They say it’s not that the drought is that much worse this time, it’s that with the war in Ukraine and with Covid, donor attention is elsewhere, so they lack the ressources to keep people alive. (Matt Gutmann. In: ABC World News Tonight. 11. Mai. 2022, Min. 16.)


Dabei wäre mediale Aufmerksamkeit für den Globaler Hunger von allergrößter Bedeutung, vor allem auch, um einen breit geführten politischen Diskurs in Gang zu setzen, der zu einer Lösung des Problems führen könnte. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) bezeichnet den Globalen Hunger als „das größte lösbare Problem der Welt“, da sowohl die Ressourcen als auch die technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen und vergleichsweise nur geringe finanzielle Mittel notwendig wären, um dieses Problem zu lösen. Dies scheitert jedoch am politischen Willen, der sich mangels öffentlichen Interesses und medialer Aufmerksamkeit auch nur schwer aktivieren lässt und das Thema auf den Tagesordnungspunkten zur Nachrangigkeit verurteilt.

Kulminationspunkt der Marginalisierung von Themen des Globalen Südens in den ABC «World News Tonight» war im Jahr 2022 schließlich die vollständige Ignorierung der Bürgerkriege im Jemen und in Äthiopien. Im Jemen, wo seit 2014 Huthi-Rebellen gegen die Regierung kämpfen, starben bis Ende 2021 über 377.000 Menschen. Die Vereinten Nationen bezeichneten die Situation im Land als „weltweit schlimmste humanitäre Krise“. Bis heute sind mehr als 23 Millionen Menschen (darunter die Hälfte Kinder) und damit etwa Zweidrittel der Bevölkerung auf humanitäre Hilfe angewiesen. Ebenfalls höchst angespannt ist die humanitäre Lage in der nordäthiopischen Region Tigray. Mit schätzungsweise bis zu 600.000 Toten gilt der dort von 2020 bis 2022 militärisch ausgetragene Konflikt als „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“. In den ABC «World News Tonight» wurden der Jemen und Äthiopien lediglich en passant in zwei Beiträgen in anderen Zusammenhängen aufgezählt. Im gesamten Jahr wurde kein einziger Beitrag zur „weltweit schlimmsten humanitären Krise“ und zum „tödlichster Krieg des 21. Jahrhunderts“ ausgestrahlt.

Dem titelgebenden Anspruch, Weltnachrichten abzubilden, werden die ABC «World News Tonight» keinesfalls gerecht. Der Titel der Sendung ist für das untersuchte Jahr 2022 als irreführend zu bezeichnen. Mit einem Anteil von etwa 3 Prozent an der Gesamtsendezeit der Berichte grenzt der Globale Süden, wo etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung leben, in der Berichterstattung der reichweitenstärksten US-amerikanischen Nachrichtensendung an der medialen Nichtexistenz.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf den Seiten des European Journalism Observatory (EJO). Die der vorliegenden Untersuchung vorausgehende Ausgangsstudie Vergessene Welten und blinde Flecken, in der unter anderem über 5.000 Ausgaben der deutschen Tagesschau ausgewertet wurden, sowie verschiedene Ergänzungsanalysen zu deutschsprachigen Medien, können kostenlos eingesehen, beziehungsweise heruntergeladen werden unter www.ivr-heidelberg.de

Auf der Seite finden sich auch Videozusammenfassungen, eine Unterschriftenpetition sowie Informationen zu einer auf der Untersuchung beruhenden Wanderausstellung.

Kurz-URL: qmde.de/155470
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