Serientäter

Liebe in Zeiten von Multimedia

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Es ist die vielleicht beste Doku-Serie, die Netflix zu bieten hat: «Hot Girls Wanted: Turned On» wirft einen detaillierten Blick auf Freuden und Leiden der modernen Romantik und Sexualität.

Das Internet hat das Liebesleben verändert. Das ist zunächst einmal einfach eine neutrale Feststellung. Dating-Apps, die stete Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken und die Verfügbarkeit eines breiten Angebots an Gratispornografie wirken sich zwangsweise auf Erwartungen, Befürchtungen und Vorgehensweisen in Sachen Romantik und Erotik aus. Auseinandersetzungen mit diesem Umstand sind oftmals ideologisch unterfüttert: Entweder findet der Kopf / finden die Köpfe hinter dieser Situationsanalyse die digital motivierte Veränderung unserer intimsten Begehren bahnbrechend oder beängstigend. Es ist zwar nicht so, als gäbe es überhaupt keine Ausnahmen. Doch nuancierte Beobachtungen der Liebe in Zeiten der digitalen Medien bleiben rar. Eine dieser Ausnahmen ist die Netflix-Dokuserie «Hot Girls Wanted: Turned On».

Die Serie stammt vom Team hinter der Dokumentation «Hot Girls Wanted», in der es um junge Frauen geht, die sich danach sehnen, in die Pornobranche einzusteigen. Jill Bauer, Ronna Gradus, Peter Logreco, Sandra C. Alvarez und Rashida Jones blicken in der sechsteiligen ersten Staffel von «Hot Girls Wanted: Turned On» ebenfalls wiederholt auf Pornografie, aber auch auf erotische Webcamservices und Periscope.

Im Staffelauftakt «Women on Top», der wohl optimistischsten Episode, geht es um Holly Randall und Erika Lust, zwei Unternehmerinnen, die eine "feministische Blickweise" in der Welt der Pornografie etablieren wollen. Soll heißen: Sie drehen Videos und machen Fotoshootings, in denen die Frauen hübsch, statt einfach nur billig und willig aussehen. Lust setzt zudem in Filmform Fantasien weiblicher Follower um. Das Kamerateam schaut ihr bei den Dreharbeiten über die Schulter, in Einzelinterviews wird mit dem Vorurteil aufgeräumt, Pornografie sei per se ein reines Männerthema und es wird erklärt, was bei Lust und Randall fürs Publikum als auch für die Darsteller anders ist. Ernstere Zwischentöne gibt es aber auch hier, so heuert bei Lust eine komplette Anfängerin an, die sich wohl doch ein wenig übernommen hat ...

«Owning It», die dritte und vielleicht stärkste Episode der Staffel, handelt derweil von Jungunternehmerin Bailey Rayne. Sie arbeitet als Webcamgirl sowie als "Tutorin" für junge Pornodarstellerinnen. Sie nimmt die Mädels unter ihre Fittiche, vermittelt ihnen Kontakte zu seriösen Agenturen, die ihre Darstellerinnen nicht zu immer mehr und immer härteren Videos drängen, und spielt obendrein Aufpasserin, damit die Frischlinge auf Kurs bleiben. Rayne wird in der Episode als aufgeweckte, selbstreflexive Frau porträtiert, mit Humor und ehrlichem Interesse am Wohlbefinden ihres Umfelds, womit «Hot Girls Wanted: Turned On» sowohl gegen das Vorurteil des Haifischbeckens namens Pornoindustrie ankämpft als auch gegen das Klischee der dummen Nuss, die sich gegen Geld für Männervergnügen ausnutzen lässt.

Gleichwohl zeigt diese Episode, wie nah Leute in dieser Industrie an einer Klippe entlang spazieren: Obwohl ein gigantisches Publikum ihre Arbeit konsumiert, werden sie wie Ausgestoßene betrachtet, finden daher vornehmlich bei Konkurrenten Gehör, was Nachteile mit sich bringen kann. Es gibt kein sicheres Einkommen, wohl aber den ständigen Druck, sich selber ununterbrochen zu vermarkten, will man es zu was bringen. Eines von Bailey Raynes "Küken" droht, unter diesem Druck und der vollkommen einzigartigen, einer Parallelgesellschaft gleichenden Stimmung in der Pornobranche zu zerbrechen. Und das «Hot Girls Wanted: Turned On»-Team spielt dabei stummes Mäuschen – es bleibt den Zuschauerinnen und Zuschauern überlassen, ob sie Bailey bis zum Schluss als positiven Einfluss sehen oder ob sie mehr Schein als Sein ist.

In «Money Shot», der vierten und wohl schwächsten Episode, geht es ebenfalls um Pornografie: Ein Darsteller, der parallel eine Erotiktalentagentur führt, träumt vom Durchbruch – mit eigener Webseite. Er spricht von der Verurteilung, die ihm durch weite Teile seiner Familie zukommt, sowie über den enormen Leistungsdruck in der Branche. In kleineren Vignetten spricht eine seiner Darstellerinnen darüber, wie sie sich vor der Kamera fühlt, außerdem sprechen zwei schwarze Pornodarsteller über die ganz eigenen Gesetze von Interracial-Videos sowie über die Versuchung, durch Pillen die eigene Leistung zu steigern.

Die Folge ist etwas unfokussiert, so als wüssten die «Hot Girls Wanted: Turned On»-Schaffenden nicht so ganz, worauf sie nun hinauswollen – so dass sich in der Episode drei, vier Ansätze für eigene Folgen finden. Zudem ist die Episode mit Wiederholungen vollgestopft, immer wieder sagt der im Zentrum des Geschehens stehende Agenturleiter, dass er ja gar nicht in die Pornografie wollte, nun aber hofft, dass seine Webseite durchsteigt. Die Schlusspointe sitzt aber: Alle verurteilen Leute wie ihn, stellt besagter Jungunternehmer fest, und doch wollen alle das gucken, was Leute wie er produzieren.

Das moderne Datingleben rückt derweil in «Love Me Tinder» in den Fokus, der zweiten Episode des Formats. Darin sprechen mehrere Männer und Frauen über die Vorteile von Tinder: Die App gibt schüchternen Menschen eine bessere Möglichkeit, sich in das Datinggewusel zu stürzen, außerdem findet auf Tinder eine gewisse Form der Ehrlichkeit statt, wissen doch viele User ganz genau, was denn nun der Ziel von Tinder-Partnersuchen ist. Über weite Teile der Episode folgt das Kamerateam aber dem 40-jährigen Ex-Reality-TV-Star James, der auf jüngere Frauen steht und sie, wann immer eine Beziehung zu ernst oder zu kompliziert wird, "ghostet".

Statt James auf Teufel komm raus dafür zu verurteilen, oder die Schuld alternativ komplett bei den modernen Medien zu suchen, bohrt die Folge nach: Warum tut James das, merkt er überhaupt, was er den Frauen antut, die er plötzlich ignoriert, nachdem er ihnen zuvor noch das Blaue vom Himmel versprochen hat? Und gibt es Möglichkeiten, auch im Tinder-Zeitalter einen tieferen Austausch zu führen? Eine sehr beeindruckende Episode, die hoffentlich einen Quasinachfolger erhält, sollte «Hot Girls Wanted: Turned On» in eine zweite Staffel gehen!

Ein Zwischending ist die fünfte Episode, «Take Me Private», in der ein Camgirl aus Kalifornien erstmals einen ihrer größten Fans besucht: Einen nerdigen Dauersingle aus Australien. Klingt auf dem ersten Blick nach Klischeesturm, doch «Hot Girls Wanted: Turned On» erlaubt beiden Parteien, sich als komplexe, sympathische, und dennoch widersprüchliche Persönlichkeit zu präsentieren. Auf die bittersüße Geschichte dieser Beiden folgt mit «Don't Stop Filming» das Schlag-in-die-Magengrube-Staffelfinale:

Eine 18-jährige Schülerin streamte die Vergewaltigung ihrer besten Freundin via Periscope. Die US-Newsmedien stellten sie als gefühlloses Monster dar und nahmen diesen Fall zum Anlass, Social Media generell und Selbststreamingdienste wie Periscope als Untergang der Zivilisation zu verurteilen. «Hot Girls Wanted: Turned On» gräbt tiefer und wirft die Frage auf, ob das Leute für den Rest ihres Lebens brandmarkende Sexualstraftäterverfahren nicht überholt sei und porträtiert die 18-Jährige umfassend. Ist sie wirklich gefühlskalt, war sie einfach von der Situation zu überfordert, um das Richtige zu tun? Irgendwas dazwischen?

«Hot Girls Wanted: Turned On» kann zwischendurch ziemlich harter Tobak sein, stößt die Dokuserie durch die Dinge, die sie anspricht, doch auch ganz beiläufig übergreifende Fragen an – über Mediennutzung sowie über Zwischenmenschlichkeit. Und doch ist diese weitestgehend in einem rein beobachtenden Stil gehaltene Dokuserie unaufdringlich gemacht, behält den belehrenden Zeigefinger bei sich und ringt sich für ihre Protagonisten durchweg wenigstens etwas Sympathie ab.

Hoffentlich kann das «Hot Girls Wanted: Turned On» noch viele weitere Aspekte der modernen Sexualität auf diese Weise beleuchten – derzeit steht die Frage nach einer zweiten Staffel noch unbeantwortet im Raum. Vielleicht lässt sich Netflix durch einige zusätzliche Abrufe endlich dazu bringen, das grüne Licht zu erteilen ...

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