Die Kino-Kritiker

«Schwarze Insel»: Ein Film für das Regal

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Zunächst stirbt Jonas' Großmutter bei einem Unfall. Dann verunglücken seine Eltern tödlich. Der Großvater, zu dem der 17 Jahre alte Junge überhaupt kein Verhältnis hat, bietet ihm daraufhin an, bei ihm zu wohnen. Ein Jahr nach den schrecklichen Ereignissen wird der Deutschkurs seiner Abiturklasse von der jungen Lehrerin Helena übernommen. Der Frau, die den Tod seiner Eltern verursacht hat.

Stab

REGIE und KAMERA: Miguel Alexandre
DREHBUCH: Miguel Alexandre, Lisa Carline Hofer
DARSTELLER: Philip Froissant, Hanns Zischler, Alice Dwyer, Mercedes Müller, Liselotte Voss, Sammy Scheuritzel
PRODUZENTEN: Ann-Kathrin Eicher, Mischa Hofmann, Britta Meyermann
SCHNITT: Marcel Peragine
Für gewöhnlich rührt Netflix für seine deutschen Produktionen hierzulande kräftig die Werbetrommeln. Da werden alle wichtigen Social-Media-Kanäle mit Trailern geflutet, da wird im Vorfeld Spannung erzeugt. Netflix produziert deutschen Horror («Dark»)? Netflix lässt teutonische «Barbaren»-Horden auf römische Kohorten los? Netflix produziert, was sonst niemand in Deutschland für in bewegte Bilder verwandelt. Und mit «Blood Red Sky» hat sogar ein aus deutschen Landen stammender Vampir-Actionfilm in über 50 Ländern Platz 1 der Netflix-Streaming-Charts in der Startwoche erklommen (nur im eigenen Land war man etwas skeptisch, hier reichte es nur für Silber). «Schwarze Insel» jedoch hat der Streaing-Gigant still und leise hochgeladen. Es gab im Vorfeld keine Trailer, keine Berichterstattung, keine Startankündigung. Am Starttag wurde er auf dem Startbildschirm angezeigt. Dann aber ist er auch schon wieder aus der Vorschlagliste verschwunden. Was ist denn da passiert?

Darüber lässt sich nur spekulieren. Netflix gibt sich schweigsamer als ein Schweigeorden – wenn es darum geht, die eigene Veröffentlichungspolitik zu erklären. Nun steht hinter «Schwarze Insel» mit Leonine auch nicht irgendeine Produktionsklitsche. Leonine ist, Zitat von ihrer Website, „aus dem Zusammenschluss von Universum Film, Tele München Gruppe, i&u TV, Wiedemann & Berg Film und W&B TV (entstanden).“ Leonine ist also nicht irgendwer im hiesigen Produktionsgeschäft (nebenbei betreibt der Konzern mit „Home of Horror“ oder „Arthouse CNMA“ eigene Streaming-Spartenkanäle). Wenn Größen wie Netflix und Leonine miteinander eine zärtliche Beziehung eingehen, dann wird diese für gewöhnlich feierlich bekanntgegeben. Nicht unbedingt mit Sekt und Minischnitzelplatte, aber dennoch unübersehbar.

Und dann taucht da am 18. August 2021 «Schwarze Insel» auf. Einfach so.

«Schwarze Insel» beschreibt den Spielort der Serie, ein namentlich nicht genauer bestimmtes schleswig-holsteinische Nordsee-Eiland. Hierher kommt Jonas mit seinen Eltern, um von seiner Großmutter Abschied zu nehmen. Seine Mutter bittet ihn nach der Trauerrede des Großvaters, diesem sein Beileid auszusprechen. Es ist offensichtlich, dass Jonas' Vater, der Sohn der Verstorbenen, und Friedrich, Jonas' Großvater, in einer eher schwierigen Beziehung zueinander stehen. Jonas kommt der Bitte seiner Mutter zwar nach, doch das Eis brechen – kann er nicht.

Kurze Zeit später sterben Jonas' Mutter und sein Vater bei einem Autounfall. Sie kommen von der Fahrbahn ab und ihr Auto kracht gegen einen Baum. Ein tragischer Unfall. Oder vielleicht nicht? Der Film erlaubt seiner Zuschauerschaft an dieser Stelle einen Wissensvorsprung gegenüber seinem Protagonisten. Der Unfall der Eltern geschieht, da ihnen eine Frau auf ihrer Fahrbahn entgegengekommt. Sie provoziert den Unfall und riskiert dabei ihr eigenes Leben – denn sicher kann sie sich nicht sein, dass dass Jonas' Vater das Steuer verreißt...

Nach dem Tod seiner Eltern unterbreitet Jonas' Großvater Friedrich seinem Enkel das Angebot, bei ihm zu wohnen. Friedrich ist ein Mann, der nicht unsympathisch wirken mag. Ein vor Gefühlen überbordender Charakter aber ist er auch nicht.

Jonas nimmt das Angebot seines Großvaters an.
Ein Jahr später haben sich die beiden aneinander gewöhnt, für Nina, ein Mädchen, das Jonas' Oberstufe besucht, empfindet der junge Mann etwas mehr als nur freundschaftliche Gefühle. Das Leben hat zu einer Art der Normalität zurückgefunden. Mit Beginn des neuen Schuljahres wird seiner Abitur-Klasse eine neue Deutschlehrerin zugewiesen. Helena ist für eine Lehrerin ziemlich cool, sie versteht es die Jugendlichen für ihren Unterricht zu begeistern – und sie beginnt Jonas' unzweifelhaft ausgeprägtes literarisches Talent zu fördern. Ein Talent, das er von seinem Vater geerbt hat, dessen schwierige Beziehung zu Friedrich offenbar in einem direkten Zusammenhang mit diesem literarischen Talent stand. Helenas Förderung von Jonas' Talent geht allerdings bald über die einer wohlmeinenden Lehrerin gegenüber eines künstlerisch begabten Eleven hinaus. Was nicht nur aufgrund ihrer Lehrerin/Schüler-Beziehung problematisch ist. Helena ist die Frau, die in dem Wagen saß, der dem von Jonas' Eltern entgegen gerast ist!

Dass Netflix diesen Thriller still und heimlich in den Stream übertragen hat, ist möglicherweise Netflix' eigenem Anspruch zu „verdanken“, im Spielfilmsegment den Abonnenten im Rahmen von eigenen Produktionen jene Art von Kino zu präsentieren, für das man normalerweise auch tatsächlich ins Kino geht. A-Schauwerte, A-Effekte, A-Schauspieler. Das Problem ist, dass selbst ein Milliardenunternehmen wie Netflix nicht im Dreitagesrhythmus solche Spielfilmproduktionen auf den Markt drücken kann. Gleichzeitig aber braucht Netflix, wie man neuerdings sagt, Content, also Inhalte. Da Netflix selbst eine Erwartungshaltung erzeugt hat, nach der das Publikum stets nach neuen Inhalten giert, entstehen dann Filme wie «Schwarze Insel» fürs Regal, Filme, für deren Vermarktung man bei Netflix offenbar noch kein Konzept gefunden hat. Nun erwartet das Publikum aber nicht nur ständig neuen Content, es erwartet eben auch, wie bereits angedeutet, Netflix-Schauwerte. Kino. Was ein Film wie «Schwarze Insel» nicht bieten kann. Was dann dazu geeignet ist, Enttäuschung bei den Zuschauern zu erzeugen, die bei einem Netflix-Film mehr erwartet als einen ZDF-Montagskrimi.



Aber genau das ist «Schwarze Insel». «Schwarze Insel» ist jene Art von Kriminalfilm, den man an einem Montag um 20.15 im ZDF erwartet. Was nicht überrascht. Regisseur Miguel Alexandre trägt beispielsweise die Verantwortung von 13 Filmen aus den Reihen «Tatort» und «Der Kommissar und das Meer». Ja, er hat auch die Udo Jürgens-Bio «Der Mann mit dem Fagott» und 2006 den recht unterhaltsamen «Störbecker»-Film inszeniert. Aber das Gros seiner Arbeiten besteht aus gediegener TV-Kriminalfilmunterhaltung. Zu welcher auch «Schwarze Insel» gezählt werden muss. «Schwarze Insel» ist routiniert in Szene gesetzte TV-Krimikost. Weder bietet die Inszenierung große Schauwerte noch Effekte. Menschen interagieren miteinander, belügen einander und das Ende der Geschichte werden auch nicht alle handelnden Figuren miterleben. Seine Spannung bezieht die Kriminalhandlung nicht aus der Frage „wer hat es getan?“, es ist die Frage nach dem „warum?“, denn wer hier die Mörderin ist, das ist schließlich von Anfang an bekannt. Das ist nicht aufregend, es ist aber auch nicht schlecht.

Wer ein Faible für wohl inszenierte deutsche TV-Krimikost hegt, wird von «Schwarze Insel» gut bedient. Wer mehr erwartet, weil der Name Netflix entsprechende Erwartungen erzeugt, sollte weiterscrollen und sich einen anderen Film fürs abendliche Kriminalvergnügen suchen.

«Schwarze Insel» ist bei Netflix verfügbar.

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