Die Kritiker

«Oktoberfest 1900»

von   |  2 Kommentare

Die neue ARD-Event-Serie setzt in visueller Hinsicht Maßstäbe – bleibt erzählerisch aber leider so pantoffelig wie die «Löwengrube», anstatt zur Coolness von «Boardwalk Empire» aufzuschließen.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Mišel Matičević als Curt Prank
Martina Gedeck als Maria Hoflinger
Francis Fulton-Smith als Ignatz Hoflinger
Klaus Steinbacher als Roman Hoflinger
Mercedes Müller als Clara Prank
Brigitte Hobmeier als Colina Kandl
Maximilian Brückner als Anatol Stifter

Hinter der Kamera:
Produktion: Zeitsprung Pictures GmbH, Violet Pictures UG und Maya Production
Headautoren: Ronny Schalk und Christian Limmer
Drehbuch: Stefan Betz, Christian Lex, Nikolaus Schulz-Dornburg und Michael Proehl
nach einem Konzept von Alexis von Wittgenstein
Regie: Hannu Salonen
Kamera: Felix Cramer
Produzenten: Alexis von Wittgenstein, Michael Souvignier, Till Derenbach und Felix von Poser
Dass sich an der Serienkultur in Deutschland in den letzten Jahren einiges getan hat, sieht man dem neuen Sechsteiler des Ersten nahezu auf den ersten Blick an: Eine ähnlich opulente Inszenierung, eine so horizontale Denkweise, ein derart „serielles“ Gespür hätte im ARD-Line-up anno 2013 noch wie ein Fremdkörper gewirkt. Mittlerweile hat man sich zumindest aus inszenatorischer Sicht jedoch an „hochwertige“ Serien-Produktionen aus Deutschland gewöhnt – vielleicht so sehr, dass einem der eklatante Unterschied zu den wenig ambitionierten Gepflogenheiten von vor ein paar Jahren gar nicht mehr so auffällt. Die Revolution frisst zwar nicht ihre Kinder, legt aber die Messlatte höher: sehr zum Leidwesen einer Produktion wie «Oktoberfest 1900».

Denn ein hoher Production Value, eine ästhetische Orientierung an international erfolgreichen Formaten und ein stärkerer Verlass auf die Individualität prägnanter Darsteller reichen nicht mehr, um in der ersten Liga mitzuspielen. Da kann «Oktoberfest 1900» noch so ein Hingucker sein – psychologisch, erzählerisch und inhaltlich kann die Serie auch mit den markanteren Zugpferden Made in Germany nicht mithalten.

Dabei wäre das vorliegende Sujet eigentlich ein Lehrbuchbeispiel für die Maxime Act locally, think globally: Kaum eine Veranstaltung ist „deutscher“ als das Oktoberfest, dessen alljährliche Eröffnung von Bistros in Buenos Aires bis zu Bars in Moskau gefeiert wird. Und weil es schon so lange besteht, bietet es gleichsam die Möglichkeit, sich freimütig entlang der historischen Zeitachse zu bewegen, um die Beliebtheit von Period Dramas zu bedienen. Als geschichtlicher Hintergrund ist das Jahr 1900 vielleicht eine besonders gute Wahl: lange vor den Nazis, vor dem bekannten Attentat 1980, und doch in einer markanten Epoche des Umbruchs. Der Fin-de-Siècle-Geist erfüllt zwar die kunstaffine Schwabinger Studentenschaft, die Mehrheitsgesellschaft lebt aber noch hinreichend „traditionell“, um dem Publikum allerorten verdeutlichen zu können, wie weit wir als Gesellschaft mit unseren humanistischen Idealen schon gekommen sind. Und auch die Wies’n durchlebt zu dieser Zeit eine Transformation: vom beschaulichen Rummel, der mittelgroßen Münchener Brauereien ihr karges Überleben sicherte, zum Megagaudi-Millionengeschäft.

Als Erster verfolgt der Nürnberger Brauer Curt Prank (Mišel Matičević) diese größenwahnsinnigen Pläne, ein bisschen aus exzessivem Gewinnstreben, aber hauptsächlich aus einer über Jahrzehnte genährten Rachsucht heraus. Um sich für sein Vorhaben genug Freiflächen vor der Bavaria zu sichern, erpresst er ein Stadtratsmitglied und eine Bordellbetreiberin, macht sich schamlos den drohenden Ruin eines Konkurrenten zunutze und hält sich auch einen Mann fürs Grobe, der auf sein Kommando bis zum Äußersten geht.

Pranks Tochter Clara (mit beeindruckender Präsenz gespielt von Mercedes Müller) soll derweil in die hohe Münchener Gesellschaft eingeführt und zügig mit einer guten Partie verheiratet werden, die dem egomanischen Brauer neue geschäftliche Möglichkeiten eröffnen soll. Wie junge Frauen aber nun mal sind, hat Clara andere Pläne und trinkt und tanzt lieber mit ihrer widerwilligen Pseudo-Gouvernante auf Bediensteten-Partys die Nächte durch – was getreu den Gesetzen dieser Dramaturgie natürlich in einer ungewollten Schwangerschaft enden muss.

Spätestens hier offenbart «Oktoberfest 1900», dass es die Serienrevolution allein in visueller Hinsicht verinnerlicht hat. Denn anstatt – wie die Figur Clara – aus den verstaubten Konventionen auszubrechen und die Gelegenheit für eine bisher bei solchen Stoffen weitgehend ausgeklammerte starke weibliche Perspektive beim Schopfe zu greifen, setzt die Serie behäbig und bemüht die alten Stereotypen fort: Als Schlüsselerlebnis dieser Storyline fungiert dann auch nicht ein Prozess, in dem Frauen in ihrer gesellschaftlichen Isolation aneinander wachsen und in sich den Quell ihrer persönlichen Stärke finden. Stattdessen markiert der moralische Sinneswandel des widerwilligen Kindsvaters den Wendepunkt, als der sich zuerst aus Pflichterfüllung und dann doch irgendwie aus Liebe zu seiner Partnerin bekennt. Das aber ist in Puncto Haltung, Psychologie und erzählerischem Können mehr «Löwengrube» als «Boardwalk Empire».

Wenn man also ein bisschen an der Fassade dieser mit viel Bohei errichteten Wies’n-Buden kratzen und sich weder von den aufwendig inszenierten Gelage-Szenen blenden noch allein vom gekonnten visuellen Spiel mit dem Dualismus der Münchener Unterwelt und dem schäbigen Glanz der Theresienwiese zur Festzeit beeindrucken lassen will, wird man wahrscheinlich ebenso enttäuscht sein wie ein australischer Wies’n-Besucher, der nach der ersten leergetrunkenen Maß in der Ausnüchterungszelle landet: Ob des Renommees hat man sich irgendwie mehr vorgestellt.

Das Erste zeigt sechs Folgen von «Oktoberfest 1900» am Dienstag, den 15. September, Mittwoch, den 16. September, und Mittwoch, den 23. September, jeweils ab 20.15 Uhr in Doppelfolgen. Online ist die gesamte Serie bereits in der ARD-Mediathek abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/121339
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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Torsten.Schaub
14.09.2020 12:09 Uhr 1
Neue visuelle Maßstäbe nur in deutschen Fernsehn bzw. Serien. In z. B. US-Serien ein alter Hut!
Familie Tschiep
15.09.2020 23:59 Uhr 2
Optisch herausragend.

Aber die Serie leidet an zwei Zeitproblemen: 1. das 6-Folgen-Korsett, das kaum Raum für Zwischentöne lasst. US-Serien wie Broadwalk Empire, Westworld, der Report der Magd, Mad Men haben 8, 10 oder 12 Folgen.

2. ein Autor entwickelt die Geschichte. Wie schafft er es sich in das Thema soweit einzulesen, dass er sich mangels Alternativen nicht nur Plotstanzen bedienen muss? Sprich: origineller, überraschender und fundierter.

Die Bierbranche erlebte Ende des 19. Jahrhundert eine Revolution in Brauereitechnik, das blieb unerwähnt. Der Prank hätte sagen können: "Erst revolutionierte ich die Braukunst, (Beispiele erwähnen) jetzt revolutionieren ich das Oktoberfest."
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