Die Kritiker

Wer hat Schuld? Und ist das wichtig?

von

Die Kritiker: Als differenziertes Sozialdrama stellt «Nacht der Angst» die Frage der Schuld nach einem Unfall in einem Geburtshaus. Und regt vielfältig zum Nachdenken an.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Nina Kunzendorf («Tatort: Frankfurt») als Emma Hartl, Friederike Becht («Käthe Kruse») als Sesha Hauff, Marcus Mittermeier («Short Cut to Hollywood») als Peter Hauff, Eleonore Weisgerber («Praxis Bülowbogen») als Doris Hauff, Kai Scheve als Kurt Hartl, Peter Lerchbaumer («Ich bin die Andere») als Dr. Scherer, Johann von Bülow («Die Anwälte») als Dr. Bauer, Adriana Altaras («Josephine Klick») als Richterin, Klara Höfels als Ursel, Susanne Wuest als Dr. Will, Karolina Lodyga («Anna und die Liebe») als Anja und weitere


Hinter den Kulissen:
Regie und Buch: Gabriela Zerhau, Musik: Fabian Römer, Kamera: Carl Friedrich Koschnick, Schnitt: Anke Berthold, Produktion: Bavaria Fernsehproduktion

Man stelle sich folgende Situation vor: Mitten in der Nacht klingelt das Telefon einer Hebamme. Am Telefon eine Freundin, die mit Zwillingen hochschwanger ist. Und obschon die Hebamme dutzende Male betont hat, dass sie keine Zwillingsgeburt durchführen will und darf, die Freundin besteht vehement darauf zur Entbindung in ihr Haus zu kommen. „Nein“, sagt die Hebamme erneut, doch ihre Freundin beharrt. Und schließlich gibt die Hebamme nach, ruft keinen Krankenwagen, sondern macht einfach. Und es geht gut. Zunächst jedenfalls. Ein gesundes Mädchen. Doch was ist mit dem zweiten Kind? Der Junge liegt schlecht, in einer sehr gefährlichen Lage. Schließlich müssen Mutter und Kind ins Krankenhaus. Doch es ist zu spät: Der Junge kommt mit Behinderungen zur Welt. Weil seine Sauerstoffversorgung zu lange unterbrochen war. Wer hat nun Schuld? Und ist die Frage nach Schuld überhaupt das relevante Kriterium?

Emma heißt die Hebamme, der genau das in «Nacht der Angst» passiert. Die Mutter im ZDF-Fernsehfilm, der von wahren Begebenheiten inspiriert ist, hört auf den Namen Sesha. Sie hat bereits ihr erstes Kind bei Emma bekommen. Damals gab es keinerlei Probleme. Peter, Seshas Mann, ist dennoch sicher, dass Emma versagt hat, gibt Emma die Schuld an der Behinderung ihres Sohnes – und zieht vor Gericht. Dramatisch geht es in dem Spielfilm zu, keine Frage. Die Thematik ist hoch emotional, die Darstellung sensibel. Doch die Konfliktlinien sind klar verteilt: Befürworter von Geburtshäusern vermuten eine Hexenjagd in dem Prozess. Die Staatsanwaltschaft hingegen sieht in den Hebammen abseits von Krankenhäusern alternative Skeptiker, die Schulmedizin ablehnen. So oberflächlich sieht es zu Beginn jedenfalls aus. Tatsächlich geht die Diskussion um einiges tiefer. Einfach jedenfalls macht es sich der Film nicht. Viel mehr beleuchtet er die Schuld von allen Seiten. Hätte es unter anderen Umständen besser ausgesehen? War Emma übermüdet? Oder ist Sesha diejenige, die unverantwortlich gehandelt hat? Wurden eventuell im Krankenwagen oder in der Klinik Fehler begangen?

Differenzierte Figuren, Mitdenken vonnöten


Tatsächlich gibt es noch viel mehr Fragen, die der Film aufwirft. Und auch in anderen Dingen macht es sich die Produktion nicht zu einfach: Natürlich könnte Peter auch einfach ein Arschloch sein. In den meisten Situationen ist er das wahrscheinlich auch. Doch andererseits denkt er in den entscheidenden Momenten unbedingt für seine Familie, obwohl er dabei nicht immer richtig liegt. Und auch Emma ist nicht einfach die arme Hebamme, die doch nur Gutes tun wollte. Nein. In ihrem Haus gab es offenbar Methoden, die zumindest kritisch bewertet werden dürfen. So bringt der Anwalt von Sesha und Peter Beispiele vor, wie Mütter bei Geburten lange Zeit ohne jeglichen Fortschritt liegen mussten. Schließlich ist da noch die Richterin: ungeduldig, mürrisch, unfreundlich, auch und gerade Kindern gegenüber. Stark gespielt von Adriana Altaras sorgt sie mitunter dafür, dass die richtigen Fragen gestellt werden, vor allem aber dafür dass sich die Zuschauer selbst die richtigen Fragen stellen.

Der Film selbst vertraut nicht auf eine einfache lineare Erzählweise. Den Prozess darf der Zuschauer von Beginn an verfolgen, immer wieder gibt es aber Rückgriffe auf das Ausgangsgeschehen. Nicht nur auf die Nacht der Geburt, auch auf die Wochen davor. Auf Familienkonflikte, aber auch auf schöne, gemeinsame Abende. Was die Story anbelangt ist das freilich kein hoch komplexes Handlungskonstrukt. Die Meinungsbildung allerdings ist im Vergleich dazu erheblich schwieriger. Die emotionalen Konflikte stehen im Mittelpunkt. Und obschon nach etwa 20 Minuten relativ klar ist, was an dem Abend nun passierte: Irgendwie ist doch nichts klar.

Wobei. Nichts ist vielleicht etwas viel gesagt. Tatsächlich kann man sich recht schnell ausmalen, wie das Finale aussehen wird. Zugegebenermaßen, der Film wartet fast lächerlich lang, bis er die offensichtliche Auflösung dann doch zeigt. Fast solange, dass dem Zuschauer Zweifel kommen. In jedem Fall aber solange, dass kaum mehr von Realitätsnähe auszugehen ist. Wird doch mit den Erwartungen gebrochen? Nein, keine Sorge. So unkonventionell wird es nicht. Bei der Richterin hingegen wartet man vergeblich um eine Auflösung: Warum handelt sie so, wie sie handelt? Warum ist sie so, wie sie ist? Hier wünscht sich der Zuschauer Hintergründe, die Darstellung nämlich lässt vermuten, dass sie von dem Fall persönlich berührt wird. Leider verzichtet die Produktion darauf, an dieser Stelle einzuhaken.

Abstruse Zufälle? Scheint nicht so.


Und noch ein gesellschaftlich relevantes Thema steht im Mittelpunkt der «Nacht der Angst». Von einem Überbau kann in diesem Fall aber kaum gesprochen werden, das Kernthema allein ist ja schon Überbau als solcher, einer über den Personenkonflikt. Dennoch ist die Frage der Sozialversicherungen für Hebammen eine, die die Politik in der Realität beschäftigt – und die Hebammen und Geburtshäuser in ihrer Existenz bedroht. Man könnte es nun als überhöhten Zufall abtun, dass einer erfahrenen Hebamme ein Zwischenfall wie der von Seshas Zwillingsgeburt ausgerechnet in einer kurzen Phase der fehlenden Versicherung passiert, ist ihr vergleichbares doch vorher noch nie passiert. Doch irgendwie scheint es stimmig: Wenn die Nerven blank liegen, dann eben richtig.

Wie vertrackt und verzweifelt die Situation ist, zeigt Nina Kunzendorf, die die Emma spielt eindrücklich. Die Wandlung ihres Charakters gelingt hervorragend, die Abkehr von der entspannten Geburtshelferin hin zum persönlichen Existenzkampf wird von ihr intensiv dargestellt. Familienkonflikte, Schwierigkeiten mit ihren Angestellten und moralische Fragen meistert die Darstellerin toll, wo es ihre Figur nicht immer schafft. Weniger auftrumpfen können Staatsanwalt und Anwalt der Nebenklage, die vor Gericht nicht so wirken, als wären sie um differenzierte Betrachtung bemüht. Vielleicht wäre es hier hilfreich gewesen, die Figuren auch außerhalb des Gerichtssaals zu sehen, wobei das womöglich den Rahmen der 90 Minuten gesprengt hätte.

Letztlich ist das jedoch nur eine kleine Randnotiz. Schwerer ins Gewicht fällt da schon das Finale, welches (wie vorher beschrieben) im Groben vorhersehbar, in der konkreten Ausgestaltung allerdings lächerlich hinausgezögert und dadurch unangemessen realitätsfern wirkt. Dass dabei musikalisch mit Ed Sheeran und filmisch mit wenig experimenteller Kamera- und Schnitttechnik kaum außergewöhnliches gemacht wurde, ist hingegen zu verschmerzen. Vor allem weil die Geschichte dabei nicht linear runtergerattert wird. Doch das Ende schadet leider einem Film, der ansonsten eine starke Emotionalität bietet und zugleich ernst-politisches und differenziertes Sozialdrama ist und wichtige Kritikpunkte anbringt. Leichte Kost ist das gewiss nicht und erfordert Mitdenken ebenso wie Toleranz und moralisches Urteilsvermögen. Wer sich das zutraut, dem tut das Einschalten nicht weh, eher im Gegenteil. Nur das vermutliche Ende der freiberuflichen Hebammen wird auch das nicht aufhalten. Ob zurecht? Nun ja. Urteile jeder für sich.

«Nacht der Angst» ist am Montag, 30. November um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.

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