
Die Gefahr hier wäre gewesen, dass diese Drehung um 180 Grad zu abrupt erfolgt, so, dass sie nicht glaubhaft erscheint. Dies verhindern die Macher dadurch, dass sie Momente einstreuen, in denen Lea selbst noch unsicher ist und auch noch im Sinne ihres alten Ichs gegen ihre neu gewonnenen Überzeugungen handelt, bis irgendwann das Maß voll ist. Doch sie ist es dann auch, die irgendwann erkennt, dass die „Welle“ Grenzen überschreitet, die Tristans Pläne infrage stellt und ihr eigenes Verhalten und das der anderen neu bewertet. Ein Spagat, der sicherlich nicht leicht zu meistern ist, der der jungen Schauspielerin aber gelingt.

- © Netflix
In «Wir sind die Welle» übernimmt sie den Part der Zazie, einer ursprünglich sehr in sich gekehrten Person, die seit frühesten Kindertagen gemobbt wurde – unter anderem von Lea, der gar nicht bewusst war, wie sehr sie ihrer langjährigen Klassenkameradin damit zugesetzt hat. Tristan motiviert sie dazu, sich endlich zu wehren. Seine Worte und seine Unterstützung lösen etwas bei ihr aus und sie schlägt wirklich im wahrsten Sinne des Wortes zurück. Doch schnell wird deutlich – allerdings vornehmlich dem Zuschauer –, dass sie immer unberechenbarer wird. Nach und nach erfährt man von ihrer komplizierten familiären Situation, wodurch verständlicher wird, warum ihr die „Welle“ so wichtig wird. Man sieht beispielsweise auch, wie rührend sie sich um ihren stark abbauenden Großvater kümmert, mit dem sie zusammenlebt. Während Lea irgendwann erkennt, dass sie zu weit gegangen sind, will Zazie mit jeder ihrer Aktionen noch mehr ins Risiko gehen. Ihre Labilität schimmert insbesondere bei Meinungsverschiedenheiten mit den anderen immer wieder durch. Barthel schafft es, dass es oft gar keiner Worte bedarf, um zu wissen, wie Zazie gerade empfindet. Sie erzählt enorm viel über ihre Mimik, über ihre Augen.

So wird also auch er ein „Welle“-Mitglied, auf das sich jeder stets verlassen kann. Dennoch ist er wohl derjenige von den Fünfen, der sich am wenigsten verändert oder zumindest nicht zum Negativen.Trotz all der schlimmen Erfahrungen, die er machen musste, ist er im Kern nämlich weiterhin ein sehr positiver, ein herzensguter Mensch. Man könnte ihn auch als die gute Seele der Truppe bezeichnen. Diesen Status als Sympathieträger verdankt Hagen ganz eindeutig Daniel Friedl. Der mit Abstand älteste der fünf Hauptdarsteller ist kurioserweise gleichzeitig derjenige mit der geringsten Dreherfahrung. Dafür kann ihm in Sachen Bühnenerfahrung keiner seiner Kolleginnen und Kollegen das Wasser reichen. Besonders am Staatstheater Mainz, das bundesweit einen sehr guten Ruf genießt, konnte er nachhaltig auf sich aufmerksam machen – unter anderen als ‚Oedipus‘ in dem gleichnamigen Stück von Seneca. Dass er spätestens jetzt auch vermehrt Anfragen für Kino- und TV-Produktionen erhalten wird, dürfte als sicher gelten. Gerade die gemeinsamen Szenen mit Michelle Barthel, die oft geprägt sind von kleinen, sehr intimen und ehrlichen Momenten, sind sehr sehenswert und eine wohltuende Abwechslung von der Hektik, die den „Welle“-Alltag ansonsten dominiert.

Die Ablehnung, die ihm alleine aufgrund seiner Herkunft entgegenschlägt, sorgt also dafür, dass sich der junge Mann an dem Ort, der eigentlich für ihn Heimat bedeuten müsste, lange nur bedingt heimisch fühlen kann. Und das drohende „Vor-die-Tür-gesetzt-Werden“ intensiviert dieses Gefühl natürlich nur noch. Als Zufluchtsort diente ihm eine stillgelegte Fabrikhalle, die eine Art Treffpunkt für junge Leute ist und schließlich zu einer Art „Hauptquartier“ der „Welle“ wird. Dort hängt auch regelmäßig Paula (Sarah Mahita) ab, in die er sich verliebt hat – im Übrigen ein ähnlich spannender Nebencharakter wie Leas Freundin Sophie (Milena Tscharntke) oder die ominöse Nikki (Livia Matthes), der es – wie auch die beiden anderen – verdient hat, in einer etwaigen zweiten Staffel noch mehr im Fokus zu stehen.
Dies gilt im Übrigen ebenso für Issa und Friedl. Dass die beiden so häufig im Bild auftauchen, täuscht darüber hinweg, dass sie im Vergleich zu dem erstgenannten Trio weit weniger zum Fortgang der Handlung beitragen, und das ist vor allem mit Blick auf ihr mehr als nur angedeutetes Können schlicht bedauerlich. Andererseits muss man auch so fair sein und zugeben, dass es sehr herausfordernd ist, permanent mit fünf Hauptfiguren jonglieren zu müssen, und gleichsam den Erzählfluss nicht permanent zu unterbrechen.

«Wir sind die Welle» ist ab dem 1. November auf Netflix verfügbar.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel