Die Kritiker

«Toter Winkel»

von

Lauter nette Nazis: Ein Film, der von gutbürgerlichen Rechtsextremen erzählt, die auf den ersten Blick schwer als solche zu erkennen sind. Erstklassig gespielt und sehr gut geschrieben.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Herbert Knaup als Karl Holzer
Hanno Koffler als Thomas Holzer
Emma Drogunova als Anya Krasniqi
Johanna Gastdorf als Elsa Holzer
Theresa Scholze als Marianne Holzer
Dirk Borchardt als Zeiler
Ronald Kukulies als Karl Brenner

Hinter der Kamera:
Produktion: Geißendörfer Film- und Fernsehproduktion
Drehbuch: Benjamin Zakrisson Braeunlich
Regie: Stephan Lacant
Kamera: Michael Kotschi
Mitten in der Nacht wird irgendwo in Deutschland eine kosovarische Familie von der Polizei aus ihrer Wohnung gezerrt. Sie soll in die vermeintliche Heimat abgeschoben werden, obwohl sie seit Jahrzehnten in Deutschland lebt. Kurz angebunden legen die Beamten den unanfechtbaren richterlichen Beschluss vor, lassen die Familie ihre Sachen packen und führen sie zügig ab. Die siebzehnjährige Anya (Emma Drogunova) kann sich losreißen und flüchtet. Zwei Polizisten nehmen die Verfolgung auf, setzen ihr nach, woraufhin einer von ihnen beim Sprint über die Bundesstraße mit voller Wucht von einem LKW erfasst wird.

Den gutbürgerlichen Friseur Karl Holzer (Herbert Knaup) erreichen bald diffuse Gerüchte. Ein enger Freund seines Sohnes sei in der vergangenen Nacht von einem LKW überfahren worden. Ein befreundeter Polizist plaudert aus dem Nähkästchen: Bei der Leiche sei eine Waffe gefunden worden. Die Eltern des Toten, gute Freunde von Holzer, stehen völlig neben sich. Doch als Holzer seinen erwachsenen Sohn Thomas (Hanno Koffler) dazu bringen will, die Eltern seines toten Freundes zu besuchen, bestreitet der, in den letzten Jahren mehr als nur den losesten Kontakt zu ihm gehabt zu haben.

Durch eine Mischung aus Zufall und einer bösen Ahnung findet Karl bald oberflächlich versteckte Photos aus der Jugendzeit seines Sohnes: Mit Kameraden steht er ums Lagerfeuer, den Arm zum Hitlergruß in die Höhe gereckt. Eine Intensivierung der örtlichen Gerüchte und erste Veröffentlichungen in der Lokalpresse, die den überfahrenen Freund seines Sohnes für einen Rechtsterroristen aus dem Untergrund halten, verstärken Karls Befürchtungen.

Thomas streitet ab, nach seiner frühesten Jugend noch irgendetwas mit Rechtsextremismus zu tun gehabt zu haben, glaubwürdig und ruhig. Der Rest der Familie löst den schwelenden Konflikt durch demonstratives Wegschauen: Thomas‘ Frau verkündet voller Freude, dass sie ein zweites Kind erwartet, und Karls Gattin hat nicht das geringste Interesse, die Abgründe ihres Sohnes auszukundschaften. Doch Karl kann sich nicht beruhigen und die Befürchtungen mehren sich: Seine Enkelin singt innbrünstig „Die Wacht am Rhein“, Thomas fällt durch gutbürgerlich verklausulierte rechtsextreme Tischreden weiter auf – und zumindest der Zuschauer weiß da schon lange, dass die Kosovaren aus der Eröffnung nie abgeschoben werden sollten, sondern von als Polizisten getarnten Rechtsextremen abgeholt wurden. Schließlich – das darf ein mindestens mäßig gebildeter ARD-Zuschauer unterstellen – müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn sich diese beiden Plotfäden nicht kreuzen würden.

Das mag sich stellenweise etwas arg vorhersehbar anfühlen, war allerdings narrativ wohl nicht anders zu lösen, wenn man sowohl Karl Holzers Erwachen als auch die Geschichte einer jungen, leidgeprüften Kosovarin erzählen wollte, während das Schicksal ihrer Familie nur langsam aufgedeckt wird, um am Schluss in seinem ganzen Schrecken dazustehen. «Toter Winkel» ist kein didaktischer Problemfilm und will sich seinen Figuren auf der psychologischen Ebene nähern, gleichzeitig aber immer die Außenperspektive beibehalten.

Nicht nur durch Herbert Knaups einnehmendes, feinsinniges Spiel gelingt die Erzählung des schrittweisen, furchtsamen Erwachens seiner Figur so gut: ein bürgerlicher Mann, zwar eher aus dem traditionellen, rechtskonservativen Spektrum, aber ein unverrückbarer Mann der Mitte, der alles Faschistisch-Extremistische genauso kompromisslos ablehnt wie jeder Andere, der Herz und Verstand am rechten Fleck hat. Und dieser Mann muss nun erfahren, wovor alle anderen wegschauen. Seine Frau, der das gutbürgerliche Ansehen der Familie im kleinstädtischen Tratschmilieu wichtiger ist als ein Minimum an Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit, und seine Schwägerin, die unverrückbar an der Seite seines Sohnes bleibt, ganz gleich, welche neuen Schauderhaftigkeiten noch ans Licht kommen. Die Tragik dieses Mannes ist gleichzeitig der Quell seiner Güte: Er kann nicht wegschauen, er kann sich der Verantwortung nicht entziehen.

Eine Botschaft, die dieser Film nach außen tragen will: Brutaler, mörderischer Rechtsextremismus ist kein ausschließliches Problem der Unterschicht, der Abgehängten, der sabbernden Hauptschulabbrecher, die ihre Kinder Kevin und Chantal nennen. Er kann genauso im kleinbürgerlichen, finanziell abgesicherten Milieu entstehen, wenn temporäre wirtschaftliche Schwierigkeiten die latente Xenophobie ins Unermessliche und schließlich Kriminelle verstärken. Im «Toten Winkel» ist das Backstory und seinen Charakteren schon lange geschehen. Diesem Film geht es nicht um die Wandlung des Täters, sondern die Erkenntnis der einzig anständigen Figur – und welche Konsequenzen sie bereit ist, aus ihr zu ziehen.

Gleichzeitig ist «Toter Winkel» kein aktueller Schlüsselfilm: Er taugt nicht zur Erklärung der NSU-Morde. Dazu sind die sozialen Milieus der Täter zu verschiedene, ebenso die psychologischen Hintergründe und wahrscheinlich auch ihre Motive. Manche Erklärungen sind einfach: Bösartige Menschen vollbringen bösartige Taten.

Diesem Film gelingt vor allem das Erzählen des Graduellen, des Schrittweisen, des vollendeten Beweises, dass sich Normalität und Grausamkeit nicht ausschließen. Die Abgründe liegen für uns alle sichtbar dort, wo wir sie nicht erwarten. Nazis sind nicht nur Baseballschläger-schwingende Vollidioten, sondern augenscheinlich nette Mitbürger, deren Verbrechen erst dadurch ermöglicht werden, dass ihr Umfeld nichts davon wissen will. Gewissermaßen funktioniert «Toter Winkel» als eine Parabel auf Edmund Burkes geflügeltes Wort. Doch Belehrungen liegen diesem Film fern. Stattdessen erzählt er unaufgeregt, nahbar, aber effektiv – und kann sein Thema dadurch umso wirkungsvoller darstellen.

Das Erste zeigt «Toter Winkel» am Mittwoch, den 3. Mai um 20.15 Uhr.

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