Serientäter

«Tote Mädchen lügen nicht» Staffel 3: Von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit

von   |  2 Kommentare

«Tote Mädchen lügen nicht» bleibt sich mit seiner dritten Staffel einerseits treu und entwickelt sich dennoch auch spürbar weiter. In Evergreen County gibt es noch viel zu erzählen…

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Wer sieht, was offensichtliches und subtiles Mobbing sowie körperliche und seelische Gewalt ganz allgemein bei jungen Menschen anrichten können, und wer den Gedanken zulässt, dass es in dieser Geballtheit wohl eher nicht, in etwas anderer Form jedoch mit Sicherheit ebenfalls im Dorf oder der Kleinstadt vorkommt, ist hoffentlich von diesem Moment an wachsamer, umsichtiger und achtsamer. Zugegeben, dieser Punkt wurde für lange Zeit in «Tote Mädchen lügen nicht» eher nur angedeutet als wirklich mit Nachdruck behandelt, und das kann man durchaus auch kritisch hinterfragen, wenn man möchte. Man könnte aber auch stattdessen behaupten, dass diese zentrale und wichtige «13 Reasons Why»-Botschaft erst durch diesen langen Vorlauf mit einer derartigen Unmissverständlichkeit beim Zuschauer ankommt, wie es nach dem Anschauen der insgesamt 39. Folge der Fall sein dürfte. Tyler und Jessica geben beispielsweise alles dafür, um sich in ihrer Haut wieder wohler zu fühlen, sich nicht mehr für das zu schämen, was sie durchmachen mussten, und all die schrecklichen Gedanken, die sie quälen, nicht mehr ihr Leben bestimmen zu lassen. Nicht nur in Bezug auf diese zwei bewahrt man sich im Übrigen etwas, was «13 Reasons Why» von Anfang an ausgemacht hat: Man nähert sich auf sehr authentische und (dank der vielen zentralen Charaktere) unterschiedliche Weise gängigen Rollenbildern an, bricht damit, zeigt höchst verschieden agierende Frauen und Männer und wirkt dabei weder belehrend noch platt.

Alex und Justin haben zum Beispiel weiterhin riesige Probleme damit, mit sich wieder ins Reine zu kommen. Nicht nur bei ihnen, sondern vor allem auch bei Clay spielt in diesem Zusammenhang das Thema Liebe – weiterhin – eine große Rolle. Eine junge Frau tritt nämlich in sein Leben und wie es der Zufall so will, handelt es sich wieder einmal um die Neue an der Schule, die Hannah einerseits ähnlich ist, allerdings andererseits auch so gar nicht: Ani Achola (Grace Saif). Nachdem in der ersten Staffel der von Katherine Langford verkörperte Charakter noch als Erzählerin fungierte und in der zweiten die Zeugenaussagen der einzelnen Befragten durch das Geschehen führten, wurde diese Aufgabe nun Ani zuteil. Dramaturgisch ist das extrem interessant, weil es dauert, bis der Zuschauer ausreichend Informationen über den Cast-Neuzugang hat sammeln können und deshalb vonseiten der Verantwortlichen einkalkuliert werden musste, dass Fans diese ihnen unbekannte Figur anfangs ablehnen würden. All jenen, denen es so erging, sei gesagt: Es lohnt sich, mit ihr nicht frühzeitig zu brechen. Nicht nur, weil sie sehr klug geschrieben ist, sondern auch, weil durch sie eine völlig neue Art der Distanzierung von den handelnden Akteuren sowie vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen Einzug hält, die vermeintlich Eindeutiges plötzlich nicht mehr als ganz so eindeutig erscheinen lassen – dieser Effekt wird durch starke Farbkontraste zwischen Rückblende und trister Gegenwart nochmals verstärkt. Was ist wahr, was gelogen und was eine Frage der Perspektive? Die extremsten Folgen dieses Vorgehens sind die in den Raum gestellten und mit Pro- und Kontra-Argumenten angereicherten Fragen „Kann sich Bryce Walker ändern?“ und „Ist Clay Jensen wirklich so ein guter Mensch, wie alle denken?“.

Erstere fällt wieder ganz eindeutig in die Kategorie „Das Publikum wird maximal gefordert“. Denn auf einer abstrakten Ebene spricht jeder schnell von zweiten Chancen, die jeder verdient habe und damit darüber hinaus indirekt zugleich die Idee der Resozialisierung an. Nur: Wer hat denn bisher wie nachdrücklich erfragt, ab wann man jemandem die zweite Chance nicht mehr einfach so zugestehen mag, warum das so ist, ob das gerecht ist und wovon man es abhängig macht, wem man es zutraut, sich zu bessern. Mit der Behandlung dieser Thematik und der bewussten Entscheidung, sogar den bis dato als Unmensch und Monster dargestellten Bryce sehr gekonnt mit fast schon sympathischen Seiten auszustatten, sorgt man beim Zuseher endgültig für ein Gefühl der inneren Zerrissenheit. Denn – und nicht anders wäre es im Fall von Tyler gewesen, wenn er seine Waffe eingesetzt hätte – die Tat muss natürlich trotzdem losgelöst von etwaigen „mildernden Umständen“ aufs Schärfste verurteilt werden.

Besonders spannend ist es in diesem Kontext zudem, sich intensiver mit Nora Walker (Brenda Strong) zu beschäftigen. Ihre Ehe war längst gescheitert, bevor es auch offiziell gemacht wurde, und sie selbst steht vor einem der größten Scherbenhaufen innerhalb der gesamten Serie. Selbstredend weiß sie um das Leid, das ihr Sohn über derart viele Menschen gebracht hat, gleichzeitig ist sie jedoch seine Mutter und liebt ihn logischerweise trotz allem, was er angerichtet hat. Mit Nora wird so gesehen nur die nächste Figur präsentiert, die äußerst widersprüchliche Gefühle verspürt und lernen muss, damit umzugehen. Einer der Höhepunkte der Staffel stellt zweifellos eine Unterredung zwischen ihr und Olivia dar, deren Mann sich – ähnlich wie Mr. Walker – längst jemand Neuen gesucht hat und alles, was ihn an früher erinnert, unbedingt hinter sich lassen will. Die Sequenzen, in denen diese an sich so selbstbewussten Erwachsenen so verletzlich präsentiert werden, sind allesamt sehr eindrucksvoll und passen gleichzeitig gut zu der stärkeren Fokussierung auf die Eltern ab Staffel 2. Was sofort auffällt, ist, dass sich die Macher offenbar sehr bewusst dazu entschlossen hatten, all jenen, den Zahn zu ziehen, die glauben, dass tolle, verständnisvolle, geduldige und unterstützende Eltern eine Art Garantie gegen Krisen aller Art bedeuten. Auch sie sind nicht selten hilflos, wissen nicht weiter und sind verzweifelt. Die Standalls, Jensens oder Downs eint allerdings, dass sie vollkommen hinter ihren Kindern stehen, dass sie sich ihrer Fehlbarkeit und dem Umstand, dass sie vieles, was deren Lebenswirklichkeit betrifft, nicht 100%-ig verstehen, bewusst sind, jedoch mit jeder Faser ihres Körpers für diejenigen, die sie von klein auf begleiten, alles geben würden und durch ihr „Da-Sein“ schon unglaublich viel bewirken. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf Jessicas Vater in Staffel 2 verwiesen, dem es mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen schließlich gelingt, dass sich seine Tochter in ihrem Bett, dem Ort ihres größten Alptraums, durch ihn wieder wohlfühlen kann, was wunderbar bildhaft dadurch unterstrichen wird, dass er seine Teenager-Tochter zudeckt.



Staffel drei macht den großen Schritt weg von „allein unter vielen“ hin zu „gemeinsam füreinander da“ und dieser geht einher mit dem, aktiver zu werden, immer weniger passiv zu sein, das Schweigen immer häufiger zu durchbrechen, sich Gehör zu verschaffen, dennoch weiterhin zuzuhören und der Bereitschaft, zu enttabuisieren, Missstände zu benennen, seinen Mut wieder und wieder zusammenzunehmen, für eine Veränderung des Verhaltens untereinander einzustehen, sich auf diese Weise Stück für Stück ein Gefühl der Sicherheit zurückzuerobern und vielleicht sogar irgendwann Wut, Kummer und Hoffnungslosigkeit immer häufiger durch Freude, die wiedererlangte Fähigkeit des Träumens und Hoffnung ersetzen zu können. Es ist deshalb auch nicht zu weit hergeholt, zu sagen, dass es einen Unterschied macht, ob man «Tote Mädchen lügen nicht» gesehen hat oder nicht. Und diejenigen, die die Serie gesehen haben, dürfen und sollen all das Erzählte selbstverständlich kritisch hinterfragen – gerade das Staffelfinale dürfte wieder viele Diskussionen befeuern. Zweifellos werden sie aber über Dinge nachdenken, die sie vorher eher weniger beschäftigt haben, und damit wäre schon sehr viel gewonnen. Eine finale Staffel wird es noch geben und es gibt berechtigten Grund zur Hoffnung, dass man höchstwahrscheinlich kein alle Seiten zufriedenstellendes, jedoch ein schlüssiges Ende konzipieren und die Zuschauer einmal mehr unzählige Male mit unvorhersehbaren Wendungen, die im Rückblick – wie bislang eigentlich immer – sehr viel Sinn ergeben werden, konfrontieren wird. Sie müssen in jedem Fall nun wieder etwas abwarten, was diesmal jedoch etwas leichter fallen dürfte als die letzten Male, da die Kernaussage der Serie (Stand Folge 39) wie folgt zusammengefasst werden könnte: „Nein, es ist noch nicht alles gut, manches wird vielleicht auch nie gut sein, aber einiges ist schon besser und anderes ist dabei, besser zu werden!“

«Tote Mädchen lügen nicht» ist auf Netflix verfügbar.


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Kingsdale
27.08.2019 11:38 Uhr 1
Ehrlich gesagt, hat es mich schon gewundert, das es eine dritte Staffel gegeben hat. Die erste Staffel wurde kontroverse aufgenommen, aber schließlich ging es um ein Thema, das tagtäglich so, zumindest so ähnlich, wirklich passiert! Mobbing, Vergewaltigung usw. Schwere Kost, aber die erste Staffel sollte an Schulen gezeigt, besprochen werden. Es ist ein rales Thema, was aber heute schon wieder etwas in den Hintergrund geraten ist.

Nach der Ersten war es schwer da fortzusetzen, aber es gab einiges Aufzuarbeiten und die Zweite war dann auch etwas zäh. Man ging etwas Unzufrieden aus der Ersten raus und es mußte noch was kommen. Doch nach dem Ende der Staffel 2 war der Cliffhanger so heftig, das auch hier wieder was kommen mußte. Die gerade laufende dritte Staffel schließt aber gut an diesen Cliffhanger an und hat wieder die Qualität der Ersten. Ich bin noch nicht ganz durch, aber sie fesselt, auch wenn ich mit meinen 49 Jahren, schon aus dem Alter raus bin. Eine Vierte, die alles Abschließen soll, wird kommen, das hat Netflix schon angekündigt. Aber dann reicht es auch, da man nicht noch mehr alles Zerstückeln sollte.
Quotermain
27.08.2019 17:01 Uhr 2

Also erstens finde ich den Originaltitel 13 reasons why 1000mal besser als den deutschen.

Zweitens dürfen Lehrer nur noch sehr eingeschränkt (c) Material verwenden.

Ich gehöre auch noch zur Generation, die durch "Die Kinder vom Bahnhof Zoo" und "Rolltreppe abwärts" ^gewürgt^ wurde und empfinde es für jedes Kind als Nötigung zwangsweise so etwas inhalieren zu müssen.

Aufklärung, Vermeidung, Drogenaufklärung etc. als pädagogischen Inhalt...super. Oder Eltern mit ihren Kindern...super.

Diese überzogene effekthascherische Pseudoaufklärung ist meiner Meinung nach nichts für die Schule.

Als Serie ok. Aber wie korrekt angedeutet...für 49jährige verständlich, aber für Kinder?

Da aber schon eher 1300 Reasons, why not!
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