Hingeschaut

Kompromisslos entschleunigt: «The Story of My Life» wagt den nächsten Schritt

von   |  2 Kommentare

Eine Talkshow zur Primetime? Was sich ARD und ZDF kaum und die Privaten gar nicht mehr trauen, testet nun VOX aus - und kreiert einen bemerkenswert authentischen, kompromisslosen Fernsehmoment, der eine gehörige Portion Aufmerksamkeit und gutes Sitzfleisch erfordert, um in voller Pracht zu erstrahlen. Hat der Sender sein Publikum dafür schon gut genug erzogen?

Die alternden Promi-Paare

  • 11.04.: Boris & Sharlely "Lilly" Becker
  • 18.04.: Rebecca Mir & Massimo Sinato
  • 25.04.: Thomas Heinze & Jackie Brown
  • 02.05.: Fabian Hambüchen & Marcia Ev
  • 09.05.: Nathalie Volk & Frank Otto
  • 16.05.: Guido Maria Kretschmer & Frank Mutters
Es bedarf mittlerweile einer ganzen Reihe an Stichpunkten, um alle Formate aufzuzählen, die VOX in der jüngeren Vergangenheit trotz zahlreicher Bedenken erfolgreich hat etablieren können. Ob im Bereich der Show, der Doku oder sogar der Serie: Wo anderenorts die Marktforschung rasch Denkverbote erteilte und stattdessen lieber das gewohnte Material zum 50. Mal reproduzierte, machte dieser Privatsender einfach mal - und in der Regel sogar richtig gut. Insofern überrascht es heute gar nicht mehr so stark wie noch vor einiger Zeit, dass sich der emsige Unterhaltungschef Kai Sturm mit «The Story of My Life» an diesem Dienstagabend aufmacht, ein weiteres ungeschriebenes Fernsehgesetz als unsinniges Gewäsch bloßzustellen: Talkshows mit Substanz funktionieren zur Primetime nicht. Und wieder einmal spricht nach Sichtung der ersten Folge mehr gegen als für einen Erfolg des Neustarts.

Und darum geht es in der zunächst sechsteiligen Sendung: In jeder Folge stellt sich jeweils ein prominentes Paar einer besonderen Form der persönlichen Zeitreise. Unterstützt von professionellen Maskenbildnern altern sie um mehrere Jahrzehnte und werden somit mit der Frage konfrontiert, wie sie sich ihr Ich und Wir eigentlich vorstellen. Für die hierzu nötigen Denkimpulse sorgt Desiree Nosbusch, die als Moderatorin fungiert und den Gesprächsfluss am laufen halten soll. Zum Auftakt versuchen sich Boris und Sharlely "Lilly" Becker daran, sich mit diesem großen "Was könnte sein, wenn..." auseinanderzusetzen, weitere bekannte Persönlichkeiten werden folgen (siehe Infobox).


Die reden ja wirklich nur...


Wer im Zuge der vollmundigen Einleitung nun eine krachende Revolution des Fernsehens mit nie da gewesenen Elementen erwartet, sollte sich vor der Sichtung zunächst einmal darüber im Klaren sein, dass VOX hier keineswegs das Rad neu erfindet. Die nachdenklichen Talk- und Reflexionselemente, die das Format im Wesentlichen ausmachen, sind im Grunde bereits aus «Sing meinen Song» oder «Ewige Helden» bekannt. Und das einzige kleine Gimmick, das man hier als schlagzeilenträchtigen "Wow!"-Effekt benennen kann, hat man in ähnlicher Form bereits in der äußerst sehenswerten ZDF-Produktion «Kessler ist...» gesehen. Neuartig und erstaunlich ist viel eher, dass sich nun erstmals ein größerer Sender daran wagt, ohne zusätzliches Unterhaltungselement wie Sport-Wettkämpfen oder Musikauftritten eine solche Unterhaltungsform zur meistumkämpften Sendezeit auszustrahlen.

Denn was man zu sehen bekommt, ist letztlich das, was man sich im Vorfeld bereits grob vorstellen kann: Das Becker-Paar erzählt zunächst davon, wie es sich vor zehn Jahren kennen- und liebengelernt hat, wie es durch große Krisen und sogar eine temporäre Trennung gegangen ist und sich doch immer wieder aufgerafft hat und wo es sich zum aktuellen Zeitpunkt sieht. Anschließend kommt die erste physische Zeitreise ins Jahr 2037, in der Boris 69 und Lilly 60 Lenzen zählen und beide vor der Frage stehen, wie sie den Übergang in den Herbst ihres Lebens eigentlich gestalten möchten. Wo sehen sie ihre Beziehung, wo könnten ihre Kinder stehen? Von welchen Nebensächlichkeiten des irdischen Daseins gilt es sich nun zu trennen, bevor sie unnützen Ballast bis ans Lebensende darstellen? Einen letzten Zeitsprung später (2057) befinden sich die sichtlich gealterten Protagonisten schließlich in einer Lebenslage, in der es sich mit dem Unvermeidbaren auseinanderzusetzen gilt: Dem Tod.

Und damit ist der inhaltliche Ablauf der Sendung auch schon skizziert. Das alles arbeiten die Beckers gemeinsam mit Nosbusch auf, wobei immer wieder mal Bilder aus der Vergangenheit oder von Familienmitgliedern eingestreut werden. Im Prinzip aber finden die gut 50 Minuten Netto-Sendezeit ausschließlich auf drei Stühlen statt, das dynamische Element der Sendung erhofft man sich vom reinen Gesprächsablauf.

Die Magie der Stille - und die Problematik des simulierten Alterns


Und wie das eben so ist bei einem echten Gespräch, das nicht auf (vermeintlich) fernsehtaugliches Fast-Food-Niveau runtergebrochen wird, entstehen dabei auch Momente der Stille, des mal gedankenverlorenen, mal genießenden, mal betretenen Schweigens - etwa wenn Boris sich erstmals als 69-Jähriger sieht und seine Eindrücke sowie Lillys Eingeständnis, dass sie durchaus mit dessen Falten und grauerem Haar fremdelt, zu verarbeiten hat. Diese Momente der Stille und des Innehaltens zu deuten, ja überhaupt erst einmal als abendliches Unterhaltungsangebot zu ertragen, obliegt dabei dem Zuschauer. Nicht wenige dürften sich da gelangweilt und angestrengt abwenden, weil ihnen zu wenig passiert. Und man kann sie nachvollziehen: Es passiert in dieser Produktion von Talpa Germany tatsächlich sehr wenig.

Natürlich ist nicht zu erwarten, dass irgendwann im Laufe der kommenden sechs Wochen zwei Menschen dabei abgefilmt werden, wie sie sich minutenlang anschweigen - da hat VOX mit telegenen Fernsehgesichtern vorgesorgt, die ein gewisses Grundverständnis davon mitbringen, dass man in einem Fernsehprojekt "zu liefern" hat. Und auch Nosbusch gibt mit ihrer unspektakulären, aber emphatischen Gesprächsführung immer wieder die richtigen Stichworte, um die Promis bei Laune zu halten - hat aber fernab ihrer häufigen Lachanfälle während der gelösteren Teile der Sendung auch ein Gespür dafür, in welchen Momenten es zielführender ist, einmal kurz bis zur nächsten Frage abzuwarten und das Gespräch (oder die Sekunden der Stille) einfach laufen zu lassen.

Nicht ganz leicht zu bewerten ist die Wirkung des kosmetischen Eingriffs, der ja so etwas wie der große Aufhänger der Show ist. Ohne die Arbeit der Maske schmälern zu wollen, wirken diese Verwandlungen nicht zu 100 Prozent authentisch, da zwar das äußere Erscheinungsbild der Protagonisten in die Zukunft transportiert wird, der Gestus, die körperliche Leistungsfähigkeit, die Stimme und die Lebenswirklichkeit von Lilly und Boris Becker aber eben doch noch merklich im Jahr 2017 verortet sind. Und so sind die beiden auch in ihren 80ern noch immer derart vital und physisch wie mental in ihren 40ern verankert, dass dieses Element letztlich leider nicht über den Status eines netten Gimmicks hinausreicht. Und natürlich merkt man ihnen auch die geistigen Schranken und das innere Zaudern dabei an, sich mal eben vier Jahrzehnte in die Zukunft zu beamen. Aber das ist okay - und angesichts der Unabwägbarkeiten des Lebens irgendwie auch authentischer, als hätten sie einen konkreten Lebensentwurf für ihr Selbst im Jahr 2057 entworfen, den sie ohne jedes Zögern runterrattern.

Kleiner Quotentipp: Wie startet «The Story of My Life» (MA 14-49)?
Grandios (10% oder mehr)
16,6%
Sehr gut (8-10%)
28,2%
Solide (6,5-8%)
38,1%
Eher schwach (5-6,5%)
14,9%
Desolat (unter 5%)
2,2%


Nur wer wagt, gewinnt?


Und so stellt sich dem potenziellen Interessenten von «The Story of My Life» letztlich vor allem die Frage, wie sehr er es sich vorstellen kann, dem Becker-Paar 50 Minuten Lebenszeit zu widmen, um von ihm in erster Linie persönliche Erlebnisse, Vorstellungen und Einstellungen zu hören. Denn das liefert der VOX-Neustart so ungefiltert wie selten zuvor - aber eben auch kaum mehr. Das soll nicht heißen, dass man den Konsum lediglich Becker-Groupies empfehlen kann, denn natürlich wird der Rezipient im Laufe der Sendezeit auch unweigerlich mit der eigenen Lebenswelt und seinen Vorstellungen von der Zukunft konfrontiert. Aber man muss sich eben darauf einlassen können, fast ausschließlich verbale Reize zu empfangen und beim Blick gen Fernsehgerät nicht viel mehr als Gesichter zu sehen, die miteinander sprechen.

Das ist unspektakulär, aber schön, wenn man sich darauf einlässt. Und VOX wäre es zu wünschen, dass sich viele Menschen darauf einlassen, denn mit seiner Abkehr vom großen Spektakel geht der Sender hier ein großes Risiko ein, dass Zuschauer ihren televisionären Unterhaltungsbedarf nicht befriedigt sehen könnten. Aber würde man das Risiko scheuen, trüge man in dieser Sendergruppe drei andere Buchstaben im Namen und würde einfach die 27. Staffel einer inhaltlich längst in lähmender Routine angekommenen Bombast-Show lustlos runterdudeln lassen, um die Kuh zu melken, bis auch der letzte Tropfen aus dem Euter geflossen ist - ober eben seit Wochen «Bones»-Wiederholungen zeigen.

VOX zeigt sechs Folgen von «The Story of My Life» am Dienstagabend um 20:15 Uhr. Im Anschluss laufen mit «Meylensteine» und «One Night Song - Blind Date im Wirtz-Haus» zwei musikalische Formate, die Talk-Elemente mit Musikauftritten verbinden - und ebenfalls sehenswert sind.

Kurz-URL: qmde.de/92392
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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Familie Tschiep
11.04.2017 21:03 Uhr 1
Das Problem ist Becker, ich mag ihn nicht.
jotobi
11.04.2017 21:15 Uhr 2
Ich finde aber Boris Becker ist für so ein Format ein sehr dankbarer Gast.

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