First Look

«The Man in the High Castle»: Fake History in Amerika

von

Auch in der 2. Staffel entwirft «The Man in the High Castle» ein spannendes Szenario mit einigen erzählerischen Umwegen. Nazis und Spoiler für Staffel 1 voraus!

Cast & Crew «The Man in the High Castle»

  • Showrunner: Frank Spotnitz
  • Executive Producer: Christian Bauter, Isa Dick Hackett, Stewart Mackinon, Ridley Scott, Frank Spotnitz, Christopher Tricario, David W. Zucker, Richard Heus, Daniel Percival, Erik Oleson, Eric Ellis Overmyer, Jace Richdale, David Semel
  • Cast: Alexa Davalos, Rupert Evans, Luke Kleintank, DJ Qualls, Joel de la Fuente, Cary-Hiroyuki Tagawa, Rufus Sewell, Chelah Horsdahl, Brennan Brown, Quinn Lord
  • Produktion: Amazon Studios, Big Light Productions, Headline Pictures, Picrow, Reunion Pictures, Scott Free Productions
Stell Dir vor, Nazis regieren Amerika und keiner spricht darüber. Zugegeben: «The Man in the High Castle» stand nie die Hype-Maschinerie zur Verfügung, wie es bei Netflix-Serien wie etwa «Stranger Things» oder HBO-Dramen wie «Game of Thrones» oder «Westworld» der Fall ist. Allerdings sind Hypes meistens sowieso überbewertet. Vor allem in einer Welt, in der jeder Streaming-Service mehr daran interessiert zu sein scheint, seine eigene Bibliothek oder vielmehr Videothek aufzubauen, auf die der Kunde nach Lust und Laune und wann auch immer zurückgreifen kann. Der Shopping-Riese hat sich vielleicht ursprünglich wesentlich mehr sogenanntes „Word of mouth“ von seinen teils aufwendigen Projekten versprochen. Allerdings findet sich neben allerhand Fehlzündungen mittlerweile ein durchaus beachtliches, anspruchsvolles und ambitioniertes Programm, das im Amazon-Weinkeller vor sich hin reift.

Auch die zweite Staffel von «The Man in the High Castle» wird wahrscheinlich erst einmal nicht viel daran ändern. Selbst wenn eine Freiheitsstatue auf diversen Promotionsbildern die Hand zum Hitlergruß erhebt und in dieser merkwürdigen Zeit, in der wir uns befinden, eine andere und vielleicht aktuellere Bedeutung erhält, als es noch im vergangenen Jahr der Fall war. Einen kathartischen Kommentar zum aktuellen Zeitgeschehen sollte jedenfalls niemand erwarten. Vielmehr finden sich hier zeitlose Statements über das Leben unter einem Regime, über einen Widerstand, der sich unter diesem Regime bildet und sich oftmals selbst bekämpft, über das Infrage stellen der eigenen Ideologie, Liebe, Verrat und vieles mehr. Themen, Emotionen und Gedankenspiele, die in der ersten Staffel vielleicht noch nicht ganz ausgearbeitet waren. Aber auch dafür kann sich ein Serienformat gut eignen: Damit Erzählungen, die Potential beweisen, sich noch finden und weiter entwickeln können, selbst wenn der ein oder andere frustrierte Zuschauer lieber die Fernbedienung in die Hand nimmt bzw. auf eine andere Streaming-Seite klickt.

Kreative Reibung kann zu kreativer Energie führen
Aufgegeben hat leider auch Showrunner Frank Spotnitz. Eine Nachrichtenmeldung, die durch diverse Medienmagazine ging und zunächst erst einmal kein gutes PR-Licht auf eine Serie wirft, die sowieso schon Schwierigkeiten hat, sich auf dem überlaufenden Fernseh- und Streamingmarkt zu behaupten. Die Konsequenz war nämlich, dass die Dreharbeiten im Mai vergangenen Jahres kurzfristig unterbrochen wurden. Kreative Differenzen sollen der Grund gewesen sein, was so ziemlich alles bedeuten kann. In diesem Fall wurde dem Produzenten wohl vom Amazon-Studio zu wenig kreativer Einfluss auf die zweite Staffel gewährt, und das obwohl er schon einen groben Fünf-Season-Plan und ein Ende des TV-Nazi-Regimes im Kopf hatte. Das muss nicht unbedingt schlecht sein, denn nicht jede Serie, die minutiös durchgeplant ist, muss gleichzeitig auch gut sein. Manchmal macht es Spaß, wenn sich Macher und Zuschauer gemeinsam auf eine Reise ins Unbekannte begeben, gerade in bewegten Zeiten, die ein wenig unberechenbarer sind, als den meisten von uns lieb ist.

Zwei der noch übrig gebliebenen Produzenten, David Zucker und Isa Dick Hackett, bleiben jedenfalls optimistisch. Wie der ehemalige Showrunner Spotnitz, hoffen sie, dass der Versandhaus-Riese ihnen fünf Staffeln gewährt, um die Geschichte in ihrer Gesamtheit zu erzählen. An die Historie unseres Universums sind sie jedenfalls nicht gebunden und die Zeichen für dieses Unterfangen stehen zumindest im Moment nicht schlecht: Erst kürzlich wurde bekannt, dass die Serie immerhin eine dritte Staffel bekommt.

Freundschaft, Liebe, Verrat und Widerstand

Autor der Vorlage Philip K. Dick

Philip K. Dick ist schon seit einer ganzen Weile gefragter Erzählstoff-Lieferant für interessante Hollywood-Science Fiction (auch wenn der Autor bereits 1982 gestorben ist). Auf seinen Büchern und Kurzgeschichten basieren unter anderem die Filme «Blade Runner», «Total Recall», «Screamers», «Minority Report» und «A Scanner Darkly». Dick musste lange Zeit mit Drogensucht und Paranoia kämpfen. Psychische Probleme, die aber auch in seine Arbeit mit ein einflossen. Am 2. März 1982 starb er an Herzversagen.
Für alle, die die erste Staffel noch nicht gesehen haben und trotz Spoilerwarnung noch weiterlesen oder einfach ihr Wissen aus Staffel eins noch einmal auffrischen wollen: «Man in the High Castle» erzählt die Geschichte eines Amerika, das im Zweiten Weltkrieg von den Nazis und den Japanern besiegt wurde. Die eine Hälfte von Amerika wird von den Deutschen besetzt, die andere von Japanern. Die Grundsteine für einen alternativen Kalten Krieg werden bereits gelegt, jeglicher Protest oder Widerstand möglichst im Keim erstickt, was selbstverständlich nur bedingt funktioniert. Allerdings schlägt das, was sich an Widerstand regt, auch nicht unbedingt effektiv zurück, sondern ist mit vielerlei internen Kämpfen beschäftigt. Hoffnung entsteht jedoch durch mysteriöse Filmrollen, die rumgereicht werden und einen alternativen Geschichtsverlauf zeigen. Eine Alternative, die natürlich weder Adolf Hitler noch die japanischen Streitkräfte gerne den Bürgern unter ihrem Regime zeigen möchten. Hitler selbst und der titelgebende, mysteriöse «Man in the High Castle» sammeln so viele Filme wie möglich, beide für verschiedene und eigene undurchsichtige Zwecke.

Trotz ihrer vermeintlichen Schwächen, erforschte die erste Staffel eine interessante alternative Historie, in der fehlerbehaftete Figuren innerhalb eines fehlerhaften Regierungssystems arbeiten mussten oder sich dagegen auflehnten. Die eigene, oftmals verblendete Ideologie ließ sich nicht mehr ganz so einfach aufrecht erhalten, sobald die politischen Ideale, die eigene Familie und die verquere Ethik ins Fadenkreuz gerieten. Auf kaum jemanden trifft dies mehr zu als auf den ehemals devoten Nazi-Offizier John Smith (Rufus Sewell), der in eine Glaubenskrise gerät, als der eigene Sohn von einer fatalen Krankheit befallen wird. Für das Nazi-Regime nicht mehr von Nutzen, hätte Smith eigentlich die Aufgabe, sein eigenes Kind umzubringen. Eine trotz fanatischer Verblendung unmögliche Entscheidung, wie sich herausstellen soll.

Takeshi Kido (Joel de la Fuente) ist ein Polizeiinspektor, der ein Verbrechen verdecken muss, das initiiert wurde, um einen Krieg anzuzetteln. Der jüdische Maschinenarbeiter Frank Frink (Rupert Evans) schwört blutige Rache für den Tod seiner Familie und schließt sich der Widerstandsbewegung an, nur um festzustellen, dass es gar nicht so einfach ist, die ein oder andere moralische Grenze zu überschreiten, auch wenn das Ziel ein Ehrenhaftes sein mag. Mittendrin findet sich die zunächst unbedarfte Juliana Crain (Alexa Davolos) wieder, deren Halbschwester vor ihrem Tod ebenfalls in der Widerstandsbewegung verwickelt war und einen der besagten Super 8 - Filme durch Amerika schmuggelte. Durch eine Verkettung verschiedenster Umstände trifft Juliana auf den Widerstandskämpfer Joe Blake (Luke Kleintank), der sich allerdings als Nazispion herausstellt. Trotzdem soll sich so etwas wie gegenseitiger Respekt und eventuell sogar Zuneigung zueinander entwickeln, die den beiden in der zweiten Staffel zum Verhängnis werden könnte.

Eine sich langsam entwickelnde Spionage-Geschichte
Diese Beziehung läuft mehr oder weniger ins Leere und insbesondere Jake Blakes Storyline, der nun seine eigene Vergangenheit erforscht, nimmt wenig reizvolle Züge an. Das mag allerdings auch an Darsteller Luke Kleintank liegen, der zwar solide agiert, aber sonst wenig Charisma und Bildschirm-Präsenz mitbringt. Julianas Reise ist dagegen um einiges interessanter: In der japanisch besetzten Region sieht sie sich immer mehr in die Ecke gedrängt und muss Asyl bei den Nazis suchen. Dort wird sie zur Vertrauten der Smith-Familie. Insbesondere zum Sohn Thomas Smith (Quinn Lord) baut sie eine großschwesterliche Beziehung auf. «The Man in the High Castle» ist auch eine Serie, die Grenzen zwischen Gut und Böse langsam aufhebt bzw. verwischen lässt. Juliana kann nämlich das rabiate Vorgehen der Widerstandsbewegung nicht mehr so einfach vor ihrem eigenen Gewissen rechtfertigen. In Alexa Davolos wurde ein durchaus fähige und starke Hauptdarstellerin gefunden, in der mehr steckt, als die gelegentlich stoische Oberfläche vermuten lässt. Emotionale Konflikte äußert sie subtil, manchmal nur mit ein bis zwei Tränen (was eigentlich schon eine Kunst an sich ist) und ohne in melodramatische Gesten zu verfallen.



Das gilt auch für Rufus Sewell, der überzeugend zwischen Pflichtbewusstsein, blanken Opportunismus und Liebe zur eigenen Familie navigiert. Cari-Hiroyuki Tagawi erforscht als gütiger japanischer Handelsminister Nobusuke Tagomi mit seiner neu entdeckten, übernatürlichen Kraft, aber dafür mit leiser Würde eine alternative Zeitline, eine alternative Familie, aber auch einen alternativen, kalten Krieg. Die zweite Staffel ist unter anderem von der Angst vor atomaren Waffen geprägt, die beide Zeitlinien beherrscht und darauf hindeutet, dass furchtbares und zerstörerisches Potential im Naturell des Menschen liegen könnte, egal welche politischen Ideale gerade vorherrschen. Das mögen nicht unbedingt erhebende Gedanken sein, trotzdem schafft es die Serie, nicht in übertriebene und erzwungene Düsternis zu verfallen. Hin und wieder überrascht sie sogar mit sanfter Melancholie, in der über verloren gegangene Freundschaften sinniert wird.

Mag sein, dass «The Man in the High Castle» einst für die Hype-Maschinerie entworfen wurde. Wir befinden uns allerdings auch in einer Serienwelt, in der insbesondere Science Fiction-Serien oftmals darauf aus sind, ihren Zuschauern die Hirnwindungen zu verdrehen oder einen Schritt voraus zu sein. Das Erzählen einer Geschichte mit greifbaren Charakteren wird darüber hinaus gern mal vergessen. Ob dies unbedingt wünschenswert ist, sei einfach mal dahingestellt, aber Hypes nutzen sich irgendwann ab und wichtiger erscheint, was hinterher noch übrig bleibt. Die Amazon-Serie ist sicherlich nicht fehlerfrei. Sie schlägt auch in der zweite Staffel manchmal unnötige Umwege ein und lässt die emotionale Entfaltung ihrer Charaktere gelegentlich im Sande verlaufen. Dennoch mangelt es ihr nicht an thematischer Reichhaltigkeit oder an Ideen. Sie entwirft eine Welt, in der ein faschistisches Regime fast schon zur Alltäglichkeit geworden ist: Menschen gehen zur Arbeit, trinken Bier in der Kneipe, führen freundschaftliche Gespräche. Ein banaler Alltag, der allerdings von Massenüberwachung bis hin zu öffentlichen Exekutionen immer wieder durchbrochen wird. Und das kann manchmal interessanter und spannender sein als jeder herbei gezwungener Story-Twist.

Fazit: Trotz gewissen soapigen Tendenzen (die in den besten Drama-Serien mal vorkommen) und etwas ungelenken Plot- und Charakterentscheidungen, ist «The Man in the High Castle» auch in seiner zweiten Staffel ein reizvolles Gedankenspiel alternativer Historie. Eine Serie, die einen sich langsam entwickelten, altmodischen Spionage-Plot mal mehr und mal weniger erfolgreich mit einem interessanten Science Fiction-Überbau verbindet.

«The Man in the High Castle» ist jetzt bereits in der Originalversion und ab Freitag, dem 13. Januar in deutscher Sprache auf Amazon Prime verfügbar.

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