Interview

Gregor Ryl: ‚Sport kann eine wahnsinnige Konstante sein‘

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In der neuen Audio-Serie «Der Schacht – Fußball. Kultur. Erzgebirge» blickt Erzähler Ryl blickt auf die Region und wie schon die Bergmänner zu DDR-Zeiten mit dem Fußball Sonntage auf dem Sportplatz erlebten.

Herr Ryl, wie ist die Idee zu «Der Schacht» entstanden – und was hat Sie persönlich an der Region Erzgebirge so sehr gereizt?
Die Idee ist in einer Kneipe nach einem Stadionbesuch entstanden. Ich habe einen ganzen Abend mit meinen beiden Mitproduzenten über skurrile Geschichten im Fußball gesprochen. Wir sind unter anderem beim ehemaligen Präsidenten vom FC Erzgebirge Aue gelandet - Helge Leonhardt. Einfach mal bei YouTube eingeben, ist witzig. Danach haben wir uns mehr mit der Gegend beschäftigt, die in diesem Jahr zur europäischen Kulturhauptstadtregion gehört und gemerkt - hier gibts richtig was zu erzählen.

Inwiefern unterscheidet sich die Fußballkultur im Erzgebirge von anderen Fußballregionen, die Sie kennen oder besucht haben?
Erzgebirgs- und Fußballkultur sind hier sehr eng miteinander verschränkt. Das Steigerlied, eine alte Bergbau-Tradition, wird vor jedem Spiel gesungen. Rund um das Stadion sieht man immer wieder die gekreuzten Hämmer oder auch die typische regionale Weihnachtskunst. Jeder im Stadion hat irgendeinen Bezug zur Wismut, dem Bergbauunternehmen der DDR - das sorgt für einen besonderen Zusammenhalt.

Der Podcast verbindet Fußball mit kulturellem Wandel und Identität. Was haben Sie dabei über den Zusammenhang von Sport und regionaler Zugehörigkeit gelernt?
Sport kann eine wahnsinnige Konstante sein. In den Irrungen der Nachwendejahre bspw. war der Fußball in Aue immer da und hat über einiges hinweggeholfen, was wegbrach. Im Fußball können außerdem Werte und Tugenden einer Region auf einzigartige Weise weiterleben.

Sie haben mit Bergleuten, Spielzeugmachern und Fans gesprochen. Gab es eine Begegnung oder Geschichte, die Sie besonders bewegt oder überrascht hat?
Wir sind mit zwei Bergmännern, die zu DDR-Zeiten 15 Jahre unter Tage gearbeitet haben fast einen Kilometer tief in einen Berg eingefahren. Dort unter der Erde haben sie mir zu zweit das Steigerlied vorgesungen - das war ein Gänsehautmoment. Auch die Geschichten aus den 80ern von Ex-Spieler Harald Mothes zu hören war toll oder mit dem aktuellen Kapitän Martin Männel zu sprechen - die sind zu gänzlich unterschiedlichen Zeiten in den Verein gekommen, aber berichteten von ähnlichen Werten im Verein und der Region.

Inwiefern ist der FC Erzgebirge Aue heute noch ein „emotionales Bergwerk“ für die Region – und wo stößt dieses Bild an seine Grenzen?
Alle zwei Wochen pilgern mehrere Tausend Menschen ins Erzgebirgsstadion und feiern ihre Mannschaft. Man singt weniger vom FC Erzgebirge Aue, sondern mehr von der BSG Wismut Aue, also dem Verein, wie er früher hieß. Da steckt schon sehr viel Emotion drin. Die Großeltern und Eltern geben ihre Erfahrungen von früher weiter, das merkt man. An die Grenzen stößt man sicher, wie immer im Fußball, wenn es sportlich über längere Zeit mal nicht so läuft.

Der Verein will zwischen Tradition und Profifußball bestehen. Wie nehmen Sie diesen Spagat wahr – gelingt er aktuell?
Der Verein kommt aus einer Stadt mit 20.000 Einwohnern und hat jahrelang 2. Liga gespielt, sich dieses Jahr auch wieder in der 3. Liga gehalten. Das ist nicht selbstverständlich. Es gibt eine Mannschaft eines Brauseherstellers aus Leipzig, die spielt nur eine knappe Stunde entfernt, hat aber ein ganz anderes Potenzial, dadurch aber auch ganz andere Ansprüche. Das ist im Erzgebirge anders. Hier weiß man, wo man herkommt, hier will man nicht zu viel, hier hat man das große Ziel 2. Liga jede Saison wieder im Blick. Und diese Hoffnung hält hier viel am Laufen.

Der Podcast erscheint im Kulturhauptstadtjahr 2025. Welche Rolle kann der Fußball aus Ihrer Sicht in einer sich neu definierenden Kulturregion spielen?
Der Fußball bringt Menschen zusammen und hält auch viel zusammen. Im Erzgebirge verbindet er alles, was es hier gibt - von bestehenden Traditionen, über Geschichte, bis hin zur Hoffnung auf bessere Zeiten - das ist eine gute Basis für die Zukunft. Man kann sich auf seine Herkunft besinnen, ohne in der Vergangenheit festzuhängen.

Wie haben Sie persönlich den Klang des Erzgebirges erlebt – sei es im Stadion, im Stollen oder in den Werkstätten? Welche Geräusche oder Lieder sind Ihnen besonders im Ohr geblieben?
Die Grubenglocke und lautes Bohren unter Tage, die dröhnende Drechselmaschine beim Handwerker, das laute Steigerlied im Stadion, aber auch das schon angesprochene zweistimmige Steigerlied unter Tage. Es hat schon alles immer etwas raues, aber dahinter verbirgt sich immer etwas Ehrliches und Herzliches.

Wie sehr hat die Recherche zu «Der Schacht» auch Ihren Blick auf Ostdeutschland verändert oder erweitert?
Da ich selber aus dem Osten komme, hat sich mein Blick auf Ostdeutschland weniger verändert, sondern eher geschärft. Und zwar in dem Sinne, dass man sich Besonderheiten in bestimmten Regionen genauer anschaut und ostdeutscher (Fan-)Identität auf den Grund geht. Dabei habe ich gemerkt, wie wichtig Geschichte und Konstanten für Menschen sein können und wie wichtig es ist, dass man sich unbekannte Gegenden erschließt und sie respektvoll abbildet.

Was wünschen Sie sich, dass Hörerinnen und Hörer aus diesem Podcast mitnehmen – besonders die, die vielleicht noch nie in Aue waren?
Für mich ist es wichtig, dass ich Hörerinnen und Hörern einen Anstoß geben kann, sich mit Orten zu beschäftigen, die man sonst nicht immer auf dem Schirm hat. Wenn das fürs Erzgebirge klappt, dann ist das toll - das Erzgebirge steht aber vor allem auch stellvertretend für sämtliche andere Regionen in Deutschland, gar nicht zwangsweise im Osten. Einfach mal hinfahren, offen sein, mit den Menschen reden, sich ein eigenes Bild machen - vielleicht ja auch einfach „nur“ mal beim Fußball. Das Ungesehene sehen. Das hilft uns allen sicher weiter.

Danke für Ihre Zeit!

«Der Schacht – Fußball. Kultur. Erzgebirge» kann bei Spotify und ARD Audiothek angehört werden.

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