Die Kritiker

«Das schweigende Klassenzimmer»

von

Leonard Scheicher, Tom Gramenz und Lena Klenke glänzen in dem 2018 uraufgeführten Film über eine aufbegehrende Abschlussklasse in der DDR der 50er Jahre.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Leonard Scheicher als Theo Lemke
Tom Gramenz als Kurt Wächter
Lena Klenke als Lena
Isaiah Michalski als Paul
Jonas Dassler als Erik Babinsky
Ronald Zehrfeld als Hermann Lemke
Jördis Triebel als Frau Kessler

Hinter der Kamera:
Produktion: Akzente Film- und Fernsehproduktion, Studiocanal GmbH, WunderWerk GmbH, ZDF und Zero One Film GmbH
Drehbuch und Regie: Lars Kraume
nach dem gleichnamigen Roman von Dietrich Garstka
Kamera: Jens Harant
Produzentinnen: Miriam Düssel und Susanne Freyer
Eigentlich sind Theo (Leonard Scheicher) und Kurt (Tom Gramenz), zwei ostdeutsche Abiturienten in spe, anno 1956 nach West-Berlin gereist, um sich dort einen Film anzusehen, der aufgrund seiner opulenten Zurschaustellung von allerlei Brüsten seit einigen Tagen ein beliebtes Gesprächsthema an ihrem Gymnasium ist. Doch vor der Wollust kommt in Westdeutschland erst einmal die Wochenschau: Und die trägt mit pathosgeschwellter Stimme und erschütternden Bildern den Budapester Aufstand gegen die sowjetische Besatzungsmacht vor. Diese bahnbrechende politische Entwicklung euphorisiert die beiden jungen Männer durchgreifender als «Liane, das Mädchen aus dem Urwald» es je vermocht hätte – und mit ihrem eigentümlichen Nachdruck setzen sie die westdeutsche Lesart der Ereignisse in Ungarn auch in ihrer Abschlussklasse in Eisenhüttenstadt durch.

Bald verabreden sich die Oberstufler regelmäßig zum RIAS-Hören bei einem alten schwulen Eigenbrötler (wunderbar weise: Michael Gwisdek) und solidarisieren sich innerlich mit den ungarischen Freiheitskämpfern, die von der gleichgeschalteten Ost-Presse als mörderische Faschisten diffamiert werden. Die Gruppe politisiert sich – und legt nach der blutigen Niederschlagung des Revolutionsversuchs durch sowjetische Truppen eine Schweigeminute im Klassenzimmer ein.

Dass dieser eigentlich überschaubar radikale Akt des politischen Ungehorsams bald bis zur Intervention durch den Volksbildungsminister persönlich eskaliert, kann da noch niemand ahnen. Doch der real existierende Sozialismus will wegen dieser eigentlichen Nichtigkeit sogar einer ganzen Abschlussklasse das Abitur verbauen. Damit bietet diese Geschichte, die eng entlang von realen Ereignissen erzählt wird, einen faszinierenden Blick in das Wesen totalitärer Systeme: Auch den geringsten organisierten Widerspruch können sie nicht durchgehen lassen.

Noch spannender ist jedoch der Einblick in die psychologische Lebenswirklichkeit der Figuren, die unter diesen Bedingungen leben müssen. Dieser Film zeigt, dass man hoffen darf: auf das Engagement junger gebildeter Menschen, die ihre Haltung nicht verleugnen, die sich einbringen, die Farbe bekennen. Ein wenig davon ist sicherlich Verklärung – doch um ja nicht tendenziös zu werden, legt «Das schweigende Klassenzimmer» Wert darauf, zu zeigen, dass nicht alle immer einer Meinung sein müssen und doch unbedingt zusammenhalten können: Wie mit dem zersetzenden Druck von Staat, Familie und Gesellschaft umzugehen ist, wird rasch zum Gegenstand feuriger Auseinandersetzungen in der Abschlussklasse. Soll man sich mit einer Finte behelfen, um das Abitur nicht zu gefährden – die beabsichtigten Zeichen sind schließlich schon gesetzt? Oder muss man standhaft bleiben und bis zum Äußersten gehen, koste diese Bagatelle auch die ganze persönliche Zukunft? Verschiedene Charaktere des Figurenpersonals geben auf diese Fragen verschiedene Antworten, entscheiden sich manchmal um, ziehen eifrig Konsequenzen (und bereuen sie bald) oder verharren bis zum Schluss in einer Schockstarre. Und doch darf jede Figur Gehör finden und in ihrer Aufrichtigkeit bestehen.

Gleichzeitig gefällt, wie sanft der Film seine Figuren führt, wie stimmig er das Wechselspiel aus politischem und persönlichem Erwachen betreibt, wie nah er uns an ihr Seelenleben bringt. Dabei treten Leonard Scheicher und Kurt Wächter als besonders einnehmendes und, ja, auch cooles Hauptdarstellerpaar auf und schaffen es dabei, die permanenten Zwickmühlen ihrer Charaktere mit äußerst filigranem Spiel fassbar zu machen. Gleichermaßen gefällt Lena Klenke in der präsentesten weiblichen Rolle, auch wenn ihre Figur leider den vornehmlichen Zweck erfüllen muss, als Mittelpunkt einer überflüssigen, anerzählten Dreiecksbeziehung zu fungieren.

Das ZDF zeigt «Das schweigende Klassenzimmer» am Dienstag, den 13. Oktober um 20.15 Uhr.

Kurz-URL: qmde.de/121892
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