Hingeschaut

Eine Stunde Wahnsinn gegen die Euro 2016

von   |  4 Kommentare

Deutschland gegen Polen aus der Sicht eines Fußballmuffels. Oder: Was läuft eigentlich sonst noch, wenn sich die Nationalelf in Frankreich abrackert?

Die DFB-Auswahl tritt gegen die Fußball-Nationalmannschaft aus Polen an. Im Grunde gibt es da nur zwei Optionen: Zuschauen und Mitfiebern. Oder die Glotze kalt lassen. Immerhin schaut ganz Deutschland die Euro 2016 – erst recht die Spiele mit deutscher Beteiligung. Sagt man so. In einem Anflug von Leichtsinn. Oder als Hyperbel. Oder zur Vereinfachung. Gewiss: 26,57 Millionen Zuschauer beim Spiel gegen die Ukraine waren bereits eine ordentliche Hausnummer. 68,5 Prozent aller Fernsehenden schalteten das Spiel im Ersten ein. Allerdings bedeutet das auch: 31,5 Prozent aller TV-Nutzer haben sich gegen das Deutschlandspiel entschieden. Das sind über zehn Millionen Zuschauer – und da sind noch all jene nicht mit eingerechnet, die sich anderweitig beschäftigt haben. Mit DVDs, Blu-rays, Videospielen, Büchern, ihren Mitmenschen oder sonstwas. Sei es, weil sie sich gezielt dafür entschieden haben, oder weil ihnen das Fernsehprogramm nichts geboten hat.

Der Plan


Das ist eigentlich ein beachtenswerter Markt. Doch was machen die deutschen Fernsehstationen? Sie servieren den Fußballverweigerern Schrott. Haufenweise Schrott. Zumindest war es während der Weltmeisterschaft 2014 so (siehe Infobox). Natürlich erwarte ich keine aufwändige Liveshow der Marke «Schlag den Star» bei ProSieben oder eine namhafte Blockbuster-Free-TV-Premiere bei RTL. Aber ich verlange, dass die Fernsehsender nicht klein bei geben. Auch zu ihrem eigenen Wohl. Damit Menschen wie ich sich nicht an den Gedanken gewöhnen: „Oh, es findet ein Sportevent statt. Zeit, Netflix oder Amazon Video oder meinen Blu-ray-Player heiß laufen zu lassen.“

Was, aber wenn die Fernsehsender dazu gelernt haben. Was, wenn sie aufgehört haben, ihre Köpfe in den Sand zu stecken und den über 30 Prozent der Zuschauer, die sich nicht für Fußball begeistern können, nunmehr ernsthafte Alternativen zur Verfügung stellen? So gute Alternativen, dass vielleicht auch manch „notgedrungener“ Fußballzuschauer abwandern könnte? Um dies zu überprüfen, beginne ich beim zweiten EM-Spiel der deutschen Mannschaft meine Stichprobe. Von 21.30 Uhr bis 22.30 Uhr zappe ich durch den TV-Dschungel. So gebe ich den Sendern auch die Chance, ihr Halbzeit-Alternativprogramm vorzuführen. Das ja in der Theorie besonders attraktiv sein müsste, ist es doch eine tolle Gelegenheit, wankelmütige Konsumenten abzuwerben.

Der selbe alte Schrott


Ich schalte das Gerät also planmäßig um 21.30 Uhr ein und bekomme sofort einen Tiefschlag verpasst. Sowohl, was meine Hoffnung anbelangt, dass die Sender gutes Programm aus dem Archiv holen. Als auch was meine Hoffnung angeht, einen brutalen Verriss schreiben zu können, in dem ich mich aufrege, dass die TV-Stationen bewusst mieses Material aussuchen, um sich selber ein Grab zu schaufeln. Denn bei RTL II läuft «Frauentausch». Wie immer am Donnerstagabend zu dieser Zeit. Die 28-jährige Mehrfachmama hat ihren Ehemann, mit dem es ordentlich kracht, vorübergehend der 39-jährigen Ines überlassen, die sich noch in der Flitterphase mit ihrem Freund befindet. Wow, welche Gegensätze! Krass, das habe ich ja noch nie in einer derartigen Dokusoap gesehen … Ächz.

Ein Stimmchen in meinem Hinterkopf meldet sich und sehnt sich nach friedfertiger, freundlicher Unterhaltung. Ich schalte zu Super RTL weiter. Denn ich habe vergessen, dass auch dieser Kanal am Donnerstag planmäßig auf eine verwandte Programmfarbe setzt: In «Papa gesucht - Wer heiratet meine Familie» sehe ich erwachsene Menschen, die sich unbequem durch soziale Interaktionen quälen. Und das vor urdeutschem, piefig-spießigem Wohnungsmief. Nein, danke. Nicht, dass ich bei Sat.1 Gold besser bedient wäre, denn dort leben die Scripted-Reality-Ermittler «Niedrig und Kuhnt» in Wiederholungen weiter, und bei Sport1 werde ich alter Auto-Ignorant mit «Die PS-Profis - mehr Power aus dem Pott» konfrontiert, wo mir aufgeregte Tüftler erklären wollen, wie toll diese und jene Schraubereien an ihren Karren wären. Ein Auto ist ein Auto ist ein Fortbewegungsmittel, murmle ich desinteressiert und fliehe von den kleinen Privaten zurück zu den Vollprogrammen.

Immerhin: Bei RTL läuft «Doctor’s Diary», eine etwas kitschige, doch charmante und gar nicht mal so dumme Serie. Nur, dass die Kölner sie in der x-ten Wiederholung zeigen. Das ist nun keine spezielle EM-Planung. Doch was an einem normalen Donnerstag schon nicht funktioniert, wird wohl kaum gegen Deutschland – Polen funktionieren. Ich frage mich, weshalb RTL während der EM nicht einfach «Deutschland 83» wiederholt, um Fußballmuffel wie mich mit bislang weniger abgenudelter Qualität anzulocken – und schalte weiter zu Sat.1. Da ist wohl die Antwort: Die großen Privatsender planen halt einfach nicht gerne um. Oder warum sonst begrüßen mich gerade die «Criminal Minds», die mit ihrer Standard-Krimiware seit vielen Jahren über die Mattscheibe flimmern.

Genervt und wahllos drücke ich auf meiner Fernbedienung herum. Oh. EinsPlus. Öffentlich-rechtliches Qualitätsfernsehen mit Anspruch erwartet mich nun, oder? Und dann noch schön nieschig und nicht so staubig-rentnertauglich … Ich kann mich nur für wenige Sekundenbruchteile freuen. Denn zappelige Schönmenschen wollen mir gerade im „So stellt sich die ARD wohl vor, wie man das YouTuber-Kernpublikum anspricht“-Stil erklären, welche Beauty-Tipps Jungs fesch aussehen lassen. «Du bist Style!», heißt der Spaß. Nun, ich hab Style, danke schön. Und der befiehlt mir, wegzuschalten.

Die spannenderen Alternativen


Bei ProSieben erwische ich das Finale des visuell aufregenden, farbenfrohen Tanzfilms «Step Up: Miami Heat». Nun gut, programmtechnisch offensichtlich nicht die klügste Entscheidung. Weder lief der mit einem saucoolen Schlussakt aufwartende Film bei seiner ProSieben-Erstausstrahlung besonders gut, noch kam am Mittwochabend die Tanzfilmdosis der Münchener mit löblichen Quoten davon. Ich aber erfreue mich erstmal an der Musik und den akrobatischen Leistungen, die hier eingefangen wurden, ehe ich zum NDR schalte. Dort gibt es die TV-Produktion «Anderst schön» zu sehen. Als Mischung aus Sozialtragödie und Romantikkomödie ist sie etwas schwere Kost, und da quer einzusteigen war wohl auch eine dumme Idee, aber Charly Hübner überzeugt mich in seinen Szenen. Könnte ich mal in voller Länge nachholen, den Streifen.

Bis dahin suche ich nach weiteren Bespaßungsmöglichkeiten während meiner Stunde Fernsehwahnsinn – und bemerke, dass sixx tatsächlich eine Premiere ausstrahlt: Eine neue Folge «Jane the Virgin». Das muss ich mir notieren, damit ich bloß nicht vorschnell urteile, die TV-Sender würden vor der EM kuschen. Gut, der einstige The-CW-Überraschungshit ist bei sixx kein großer Wurf und kann daher „versendet“ werden. Dennoch: Hut ab, sixx, liebe Senderin. Du könntest auch einfach einen Rerun ausstrahlen. Und auch arte zeigt frische Ware: Die gefeierte dänische Serie «Die Erbschaft». Selbst wenn ich den Einstieg verpasst habe, vergeht mein Umschaltimpuls sofort: Innerhalb weniger Minuten lerne ich die markanten Figuren kennen, versuche, durch ihre komplexen Beziehungen untereinander durchzusteigen und zu begreifen, was sie alle antreibt. Die Darsteller sind super, der Look edel. Spitze. Der Anfang wird in der Mediathek nachgeholt, ab kommender Woche nehme ich mir vor, die neuen Folgen „live“ zu schauen.

Und schon ist es 22.30 Uhr. Mein Experiment ist beendet – und ich darf sagen: Okay. So dumm stellen sich die deutschen Sender nicht an. Sie könnten sich zweifelsfrei besser schlagen – aber zu großen Teilen ist an der miesen Programmauswahl nicht die EM schuld, weil einfach derselbe Müll läuft wie sonst immer. Kleine, sündige Vergnügen wie «Step Up: Miami Heat» und lobenswerte Erstausstrahlungen lassen sich aber auch finden. Das versöhnt mich. Und jetzt werfe ich die DVD zu «Brick» ein. Weil es Rian Johnsons High-School-Film-noir mit Joseph Gordon-Levitt hierzulande nicht als Blu-ray zu kaufen gibt und ich somit mit dem älteren Medium vorlieb nehmen muss. Niedrige Auflösung zum Trotz: Der Ruhe vor meinem Fenster entnehme ich, dass mich mehr Spannung erwartet als das Fußball-Publikum.

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Es gibt 4 Kommentare zum Artikel
logan99
17.06.2016 01:12 Uhr 1
Wir wollten eigentlich draußen schauen und bisschen Grillen, aber das Wetter war hier katastrophal und somit fiel der geplante Abend buchstäblich ins Wasser. Zuhause habe ich dann kurz reingeschalten, aber das was die Deutschen da speziell in der offensive abgeliefert haben, glich einem Trauerspiel. Zwischendrin habe ich dann aus Langeweile immer mal auf Eurosport geschalten und mir angesehen, wie die tollen Prototypen Nachts im strömenden Regen mit über 350km/h in Le Mans heizen - weit faszinierender als der grauenhafte Kick der deutschen Mannschaft in Paris.
P-Joker
17.06.2016 01:54 Uhr 2
In der Aufzählung oben vermisse ich aber einige Sender.

Bei ARD, Phoenix, 3Sat, ZDF-Neo oder ZDF-Info hätte ich z.B. locker zwei bis drei Alternativen gefunden.

Allerdings gehöre ich ja zur Mehrheit, die die Fußball-EM schauen. :-)
Sentinel2003
17.06.2016 02:16 Uhr 3
Die Erbschaft auf arte lief doch weiter, allerdings schon tief mittendrin in den 10 Teilen, nämlich 6, 7 und 8 oder so...



Gestern liefen immerhin 2 einigermassen gute Filme auf K1.
Lion_60
17.06.2016 13:04 Uhr 4
Tele5 hatte auch was frisches gezeigt.
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