Hintergrund

Vor 90 Jahren: Die Premiere von «Menschen am Sonntag»

von   |  2 Kommentare

Am 4. Februar 1930 erlebte der deutsche Film einen dieser Momente, die die Magie des Kinos ausmachen. Es startete ein Film in den Lichtspielhäusern, der die Menschen verzaubern sollte und mit dessen Erfolg niemand auch nur im Ansatz gerechnet hatte. Sein Titel: «Menschen am Sonntag».

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Kinostart
Als der Film am 4. Februar 1930 in den Kinos startete, wirkte er zunächst wie aus der Zeit gefallen. Laut dem von Ilona Brennicke und Joe Hembus 1983 herausgegebenen Filmbuch „Klassiker des deutschen Stummfilms 1910 – 1930“ ist «Menschen am Sonntag» der vorletzte Stummfilm, der in Deutschland in die Kinos gekommen ist. Im September des Jahres folgte mit dem Drama «Lohnbuchhalter Kremke» der Letzte seiner Art. Die Kritik nahm den Film freundlich auf. In ihrem Buch „Siodmak Bros. Berlin – Paris – London – Hollywood“ zitieren Wolfgang Jacobson und Hans Helmut Prinzler eine Kritik aus der Frankfurter Zeitung vom 6. Februar 1930, in der der Autor schreibt: „Die Aufnahmen sind so gut und warm und sommerlich, dass in dem winterlichen Theater auf einmal Sommer wird.“

Es ist wenig darüber bekannt, wie der Film jenseits der großen Städte aufgenommen worden ist. Der Kultur- und Feuillettonjournalismus des Jahres 1930 war nicht nur extrem, sondern de facto ausschließlich auf die Metropolen fokussiert. Hier befanden sich die wichtigsten Bühnen, hier wurden die kulturellen Trends gesetzt. Darin unterscheidet sich das Berlin von 1930 wenig vom Berlin der Gegenwart. Es fehlte jedoch zum einen die Möglichkeit des Austausches (das Telefon war die Spitze der telekommunikativen Technik, die den Redaktionen zur Verfügung stand). Und die Agenturen, die es auch damals schon gab – saßen ebenfalls in den großen Städten, von denen aus sie die „Provinz“ belieferten. So ist der Blick auf den Erfolg von «Menschen am Sonntag» sehr großstädtisch geprägt. Doch in Berlin standen die Menschen Schlange, um den Film zu sehen. Ob Mittags- oder Abendvorstellungen: Über Wochen hinweg waren die Lichtspielhäuser ausverkauft. Aber auch in anderen Städten wie Hamburg oder Frankfurt fand der Film ein dankbares, begeistertes Publikum.

«Menschen am Sonntag» wird, dies wurde an dieser Stelle bereits mehrfach erwähnt, der Neuen Sachlichkeit zugerechnet. Egal, welches Buch man aufschlägt, welchen Artikel man lesen mag: Kein Autor, keine Autorin kommt ohne diesen Hinweis aus. In vielen Texten findet sich auch der Hinweis auf seinen semi-dokumentarischen Charakter, ein durchaus in der Neuen Sachlichkeit beliebtes Stilmittel. So gesehen ist es sicher erlaubt, «Menschen am Sonntag» als einen – sogar einen der wichtigsten – Vertreter dieser Kategorie von Zwischenkriegsfilmen zu betrachten. In einem Punkt aber unterscheidet sich «Menschen am Sonntag» massiv von jenen Filmen der Neuen Sachlichkeit, die das Leben in den Metropolen – vor allem in Berlin – darstellen. «Menschen am Sonntag» ist eine Ode an die Hauptstadt.

Moloch vs. Liebe
Filme der Neuen Sachlichkeit zeigen die Welt der Großstadt als einen Ort der Verdammnis, einen von Freude und Hoffnung gereinigten Moloch, in dem Genuss im besten Fall die eigene Verzweiflung betäuben soll. Das ist «Menschen am Sonntag» nicht. Im Gegenteil: «Menschen am Sonntag» ist in nahezu jeder Szene eine Liebeserklärung an die Stadt und seine Menschen. Selbst die Konflikte, die sich im Rahmen der Handlung auftun – Wolfgangs Flirt mit Christl etwa, aus dem eine Zuneigung zu Brigitte erwächst: Vielleicht ist es ja eine Liebe, die sich hier gefunden hat. Der Film beantwortet die Frage nicht. Er zeigt nur einen Moment des Lebens. Aber dieser Moment ist schön. Unbeschwert. Von den Verpflichtungen des Alltags bereinigt und rein.

So lässt sich der Film heute anschauen. Als Ode. 1930 spielte sicher auch die Tatsache eine Rolle, dass «Menschen am Sonntag» vollkommen unpolitisch ist. Der Sonntag wird gefeiert als das kleine Vergnügen. In beeindruckend (vermeintlich) einfachen Bildern, in denen Kameramann Eugen Schüfftan durch ein das Simple zur Kunst erhebt.

Immerhin blieb Billy Wilder, allen Streitereien mit Robert Siodmak zum Trotz, der Produktion bis zum Ende treu, haderte aber mit dem fertigen Film. In einem Gespräch mit der „Deutschen Filmkunst“ aus der DDR im Jahr 1961 sagte er, er hätte aus der Idee, die Siodmak und er an einem Sonntagnachmittag bei einem Kaffee erdachten, lieber ein Drehbuch für einen Willy Fritsch- und Lilian Harvey-Film weiterentwickelt, den beiden ersten Superstars des jungen Tonfilms. Beide tauchen in dem Film übrigens auf: Als Starpostkarten, die einen Streit zwischen Erwin und Annie nicht überleben. In diversen Analysen wird dies als eine bewusste Provokation der jungen Wilden gegenüber dem Starsystem gedeutet. Ob dies den Tatsachen entspricht? Tatsache ist, dass zumindest Billy Wilders Wunsch Wirklichkeit wurde. Die Macher des Filmes galten nach seinem unerwarteten Erfolg als heiß, bekamen Verträge größerer Studios – und Billy Wilder schrieb 1932 die musikalische Komödie «Ein blonder Traum». Die Hauptrollen spielten: Willy Fritsch und Lilian Harvey.

Ein Flop, den man sehen sollte
Trotz der Entstehungsgeschichte des Filmes, die zu persönlichen Zerwürfnissen führte, fanden Billy Wilder und Robert Siodmak wieder zueinander. Mit Roberts Bruder Curt schrieb Billy Wilder 1931 das Drehbuch zu der Komödie «Der Mann, der seinen Mörder sucht». Der von Robert Siodmak inszenierte Film wurde, trotz eines Heinz Rühmann in der Hauptrolle, ein Flop. Niemand wollte die Geschichte eines unglücklichen jungen Mannes sehen, der zufällig einen Einbrecher kennenlernt und diesem 5.000 Mark verspricht – wenn der ihn umbringt. Die einzige Bedingung: Er muss unvorhergesehen passieren. Kaum aber hat er den Selbstmordauftrag vergeben, lernt er die Liebe seines Lebens kennen, ja, er liebt das Leben – und hat nun ein Problem.

Bedauerlicherweise hat von diesem Film nur ein Fragment mit dem Titel „Joe, der Mann mit der Narbenhand“ die Zeiten überdauert. Eine verkürzte Version des Filmes, mit denen die Produzenten einen zweiten Anlauf in den Kinos wagten und abermals scheiterten. Im Rahmen einer Retrospektive des Werkes der Gebrüder Siodmak auf der Berlinale 1998 wurde der Film dem staunenden Publikum gezeigt. Billy Wilder und Robert Siodmak haben mit diesem weitgehend unbekannten Film schlicht und ergreifend das Genre der Screwball-Komödie erfunden. Man kann es nur vermuten, aber der Humor (und das Tempo, mit dem er vorgebracht wird) war seiner Zeit einfach um Jahre voraus und, da ja auch noch etwas schwarz unterfüttert, vielleicht einen Tick zu angelsächsisch. So nennt die Literatur bis heute als den Film, der als erster typische Screwball-Elemente enthielt - «The Front Page» von Lewis Milestone. Der startete am 4. April 1931 in den amerikanischen Kinos. «Der Mann, der seinen Mörder sucht» startete in Deutschland allerdings bereits am 5. Februar des Jahres. Dass Billy Wilder das Theaterstück, auf dem «The Front Page» basiert, 1974 als «Extrablatt» ebenfalls verfilmte, sei als amüsante Randnotiz vermerkt.

Eine Retrospektive
1998 ehrte die Berlinale Robert und seinen Bruder zwar mit einer Retrospektive, doch geliebt wurde Robert Siodmak in seiner Heimat nie. Geachtet durchaus. 1957 erhielt für seine persönliche Abrechnung mit den Nazis, «Nachts, wenn der Teufel kam», das Filmband in Gold. Die Geschichte eines Serienkillers, der seinem Tun ungehindert nachgehen kann, weil es einen wie ihn im Nationalsozialismus einfach nicht geben darf, besetzt eine Ausnahmeposition im deutschen Nachkriegskino der 50er, das sich ansonsten lieber in Heimatromantik verlor. Siodmak arbeitete nach dem Krieg wieder in dem Land, das viele seiner Familienmitglieder ermordet hatte. Im Gegensatz zu seinem Bruder Curt, der die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß und einmal über Deutschland gesagt hat, nicht er habe Deutschland verlassen, Deutschland habe ihn verlassen, war Robert zu einer Rückkehr bereit. Doch leben konnte er hier nicht mehr. Daher wählte er einen Wohnsitz in der Schweiz.

Warum sich der deutsche Cineast mit Siodmak schwertut? Nicht nur die deutsche Kulturkritik neigt dazu zu verlangen, dass Radikalität und Genialität eine zwingende Einheit bilden zu müssen. Ein genialer Künstler muss radikal sein. Ein Nonkonformist. Ja, Robert Siodmak schuf mit «Menschen am Sonntag» ein Schlüsselwerk des Kinos der Weimarer Republik. 1945 folgte ein zweites Schlüsselwerk, dieses Mal im Psychothrillergenre mit «Die Wendeltreppe». Sein ein Jahr später entstandener Thriller «Rächer der Unterwelt» gilt als Meisterwerk des Noirs. «Der rote Korsar», 1952 entstanden, wird gemeinhin als bester je gedrehter Piratenfilm betrachtet.

Aber genau das ist möglicherweise der Grund, warum sich die Kulturkritik gerade in seiner Heimat windet: In seiner Biografie schreibt er selbst, hätte er sich wie Hitchcock auf ein Genre fokussiert, wäre er vielleicht ebenso bekannt geworden. Wer «Die Wendeltreppe» je im Kino gesehen hat, weiß, dass Siodmak keinen Vergleich mit Hitchcock je hätte scheuen müssen – wäre er diesem Genre treu geblieben. Doch Siodmak war einerseits ein Studioregisseur, der eben im Auftrag auch das abarbeitete, was man ihm auftrug. Und er war ein Mann, der das Kino in all seinen Schattierungen liebte. So beschrieb ihn Curt Siodmak 1998 auf der Berlinale. Curt Siodmak, der als Drehbuchautor vorwiegend im B-Film tätig war und auch exotische Genres wie das Südseedrama mit Geschichten versorgte, reiste, 96 Jahre alt, zur Retrospektive, die natürlich hauptsächlich seinem Bruder gewidmet war. Sein Bruder, sagte er dort, wollte einfach Filme machen. Alle Arten von Filmen.

Ab Ende der 1950er Jahre fokussierte Robert Siodmak seinen Schaffen auf so genannte Publikumsfilme der gehobenen Art. Mit «Affäre Nina B.» verfilmte er einen Roman von Johannes Mario Simmel, mit «Der Schut» reihte er sich in die Liste von Karl-May-Regisseuren ein. Seine Filme waren erfolgreich, die Kritik mochte sie weniger. 1973 starb er nur zwei Monate nach seiner Ehefrau in seiner Schweizer Wahlheimat.

«Menschen am Sonntag» ist unter anderem auf Amazon Prime und YouTube legal als Leihtitel verfügbar. Diese Fassung ist kürzer als die Kinoversion von 1930, die in dieser Form als verschollen gilt. 2005 gelang es dem staatlichen niederländischen Filminstitut diese fast vollständige Version aus Archivbeständen zusammenzufügen.

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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
elmi2
04.02.2020 17:09 Uhr 1
Ich weiß... Korinthenkackerei... aber warum ist gleich unterhalb des Titels vom Kinostart 4. Februar 1930 (macht ja auch Sinn, darum heute daran zu erinnern), aber auf Seite 3 des Artikels ganz oben dann 4. Februar 1929 ---- ist jetzt nicht dramatisch, sieht aber komisch aus....
Manuel Weis
04.02.2020 17:21 Uhr 2
Danke für den Hinweis. Habe ich ausgebessert.

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