Die Kino-Kritiker

«Und morgen die ganze Welt» – Mädchen im Aufstand

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Noch zwei Tage bis zu den Kino-Schließungen in Deutschland. Quotenmeter-Redakteur Markus Tschiedert hat die deutsche Oscar-Hoffnung gesehen.

Letztes Jahr wurde das Sozialdrama «Systemsprenger» von deutscher Seite ins Rennen um den Oscar in der Kategorie ‚Bester fremdsprachiger Film’ geschickt, wurde von der Academy of Motion Pictures Arts and Sciences dann aber doch nicht in die engere Wahl genommen. Dieses Jahr versucht man es mit «Und morgen die ganze Welt» - ebenfalls ein Sozialdrama von aktueller Brisanz von einer Regisseurin inszeniert. Das Werk von Julia von Heinz feierte seine Premiere bereits im Wettbewerb der diesjährigen Internationalen Filmfestspiele in Venedig, ging aber leer aus.

Zuletzt eröffnete «Und morgen die ganze Welt» die Hofer Filmtage. Nun soll sich das breite Publikum einen Eindruck machen über die Geschichte einer jungen Frau, die unbedingt etwas gegen die stets zunehmende Rechtsradikalität In unserem Land tun will. Ein Thema, das gerade auch in den USA zur jetzigen Lage großes Gehör finden sollte. Vielleicht erkennen das auch die eher liberal eingestellten Academy-Mitglieder und geben «Und morgen die ganze Welt» eine Oscar-Chance. Der Titel bezieht sich übrigens auf ein Propaganda-Lied der Nazis, wo es heißt: ‚Heute gehört uns Deutschland, und morgen die ganze Welt‘.

Mit den falschen Mitteln
Die Mannheimer Jurastudentin Luisa (Mala Emde) kommt aus gutem Haus, was sie aber nicht blind macht wie die politischen Strömungen, von denen eine zunehmende Gefahr für die Demokratie in unserem Land ausgeht. Der Rechtsruck in der Bevölkerung ist unerträglich für Luisa geworden, weshalb sie sich einer Antifa-Gruppe anschließt, die eine Jurastudentin für kommende Aktionen gut gebrauchen kann. Diese sind bisher immer ohne Gewalt abgelaufen. Auch die Aktivisten Alfa (Noah Saavedra) und Lenor (Tonio Schneider) gehören dazu, beide zweifeln jedoch zunehmend, ob die bisherigen friedlich organisierten Maßnahmen geeignet sind, um wirklich etwas gegen Rechte bewirken zu können.

Auf Luisa haben beide ein Auge geworfen und ziehen sie in ihre Gedankenwelt hinein, über die anderen Gruppenmitglieder hinweg militantere Mittel anzuwenden. Das hat Folgen als sie dadurch in den Besitz eines gestohlenen Zündstoffs kommen, der sie beim Verfassungsschutz selbst zur Zielscheibe macht. Nicht genug, ist auch noch eine Horde Neonazis hinter ihnen her.



Weltverbessernde Absichten
Ohne Umschweife macht Julia von Heinz gleich zu Beginn klar, worauf sie mit ihrem Film hinaus will. Sie zitiert das Grundgesetz, in dem es in Artikel 20 heißt, dass die Bundesrepublik Deutschland ein demokratischer und sozialer Staat ist, in dem die Gesetzgebung an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht gebunden sind.

Aber nun kommt‘s: Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutsche das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Genau davon machen die Protagonisten im Film Gebrauch und schießen übers Ziel hinaus. Die Regisseurin überlässt jedoch dem Publikum die Bewertung und interessiert sich mehr für das moralische Dilemma. Sind Weltverbesserer, die genauso militant agieren wie die, die die Welt in den Abgrund führen könnten, wirklich besser? Wie weit darf der in Artikel 20, Absatz 4 des Grundgesetzes gewährte Widerstand gehen? Und wer bestimmt, wann andere Abhilfen nicht möglich sind? Vor allem die studierende Luisa muss sich damit auseinandersetzen und gerät in einen inneren Konflikt.

Ein Konflikt, der die Geschichte vorantreibt, weil man mit Luisa sympathisiert und genau versteht, wie es ihr damit geht. Je linksliberaler man selbst ist, desto größer wohl das Verständnis für Luisa. Wie dabei die emotionale mit der rationalen Ebene konkurriert, ist von Julia von Heinz, die das Drehbuch zusammen mit John Wüster schrieb, klug ausgearbeitet. «Und morgen Die ganze Welt» ist daher ein höchst brisanter Politthriller, der die Stimmung in unserem Land sehr gut wiedergibt und noch lange nachwirkt.



Hoffnungsvolle Newcomer
Die drei Hauptdarsteller sind das Herzstück des Films. Als Trio verfolgen sie zwar das gleiche Ziel, wobei sich aber immer stärker die charakterlichen Gegensätze herauskristallisieren. Noah Saavedra («Egon Schiele - Tod und Mädchen») als von sich überzeugter Vorkämpfer heißt im Film nicht umsonst Alfa. Tonio Schneider In seiner ersten Filmrolle überzeugt als besonnener Lenor. Beide flankieren Mala Emde, die seit ihren eindrucksvollen Rollen in Kinofilmen wie «Lara» und «Wir töten Stella» und TV-Produktionen wie «Charité» längst keine Unbekannte mehr ist. Sie trägt den größten Teil der Story und schafft es, die zunehmende Zerrissenheit ihrer Figur wirkungsvoll auszufeilen.

«Und morgen die ganze Welt» ist bis Sonntag, 1. November 2020, in den deutschen Kinos zu sehen. Im Dezember wird der Film vermutlich wieder in die Lichtspielhäuser kommen.

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