Hingeschaut

ProSieben, die Zahnbürste bitte!

von
Am Montag lief die erste Folge der neuen Scripted Reality «4 kämpfen für dich!» - Manuel Weis über grundsätzliche Probleme solcher Formate.

Die ProSieben-Testwochen am Nachmittag enden zum Wochenende – bis dahin wird der Privatsender den Sendeplatz um 16.00 Uhr mit dem Format «4 kämpfen für dich» bespielen, das jedoch wie sämtliche Vorgänger nicht zu überzeugen weiß. Das Problem der Sendung wird schon in den ersten Sekunden klar. Auf der Toilette des Jugendtreffs „Bam“, der Haupthandlungsort des Streetworker-Formats ist, hat sich eine Jugendliche eingesperrt, um sich das Leben zu nehmen. Jugendclubleiter Frank eilt herbei, zahlreiche Proll-Türken ergänzen das Bild.

Sofort wird dem Zuschauer klar, dass es sich hier um ein gestelltes Geschehen handelt, da sämtliche Protagonisten bis ins höchste unglaubwürdig agieren. Genau das ist eines der Hauptprobleme der neuerlichen Nachmittagsformate. Sie arbeiten mit Extremen: Extremes Glück zum Ende hin und extreme Verzweiflung zu Beginn. Derart emotionales Verhalten glaubwürdig zu spielen, das gelingt selbst den erfahrensten Schauspielern nicht auf Anhieb. Darsteller und Regisseur brauchen viel Zeit, ehe eine solche Szene wirklich sauber im Kasten ist. Bei einer Produktion wie «4 kämpfen für dich» gibt es das alles nicht: Zum einen fehlt es an Qualität der Darsteller, zum anderen haben die Akteure auch gar nicht die Zeit, sich genau auf alles einzulassen. Bei der Billigproduktion geht es letztlich zu wie am Fließband.

Hätten die Produktionsfirmen für eine Folge sieben oder acht Tage Zeit, dann könnte man mit den Darstellern an Ausdruck, Körperspannung und ähnlichem arbeiten – oftmals bleibt aber nicht einmal die Hälfte und so bekommt der Zuschauer teilweise äußerst schwache Leistungen zu sehen. Das gilt nicht nur für die Episodenrollen, sondern erstaunlicherweise auch für Sozialpädagogin Nina, die dauerhaft in dem Format zu sehen ist. Sie sticht aus dem ohnehin schon eher schwachen Cast nochmals negativ heraus.

Die Premierenepisode erzählt ein brisantes Thema, allerdings des Öfteren auf sehr unglückliche Art und Weise. Seelische Misshandlungen in der Familie von jungen Mädchen kommen tagtäglich in Deutschland vor und genau deshalb sollte man solchen Geschehnissen mit Respekt gegenübertreten. Die Autoren der Produktionsfirma Producers at work taten dies nicht und schrieben Dialogbücher, die jeder Professor wohl nach den ersten fünf Seiten zur Seite legen würde. Beispiele gefällig? „Manchmal muss sie sogar zugucken, wenn alle essen!“ versucht eine der Darstellerinnen das Leid des Mädchens zu beschreiben. Das trifft den Punkt einfach nicht – und es zieht eine Strafmethode ins Lächerliche, die es so in Deutschland nicht mehr geben sollte. „In dem Moment sind mit die Sicherungen durchgebrannt“ – eine weitere Worthülse in dem Format: Im Anschluss ist die überforderte Darstellerin Nina zu sehen, wie sie versucht sich wütend gegen den Vater des Mädchens zu wehren. Oder aus dem Off kommentiert: „Er hat ein großes Herz für Lyrik: Er schreibt selbst Gedichte und kann deshalb verstehen, wie Melanie fühlen muss“.

Das dann vorgelesene Gedicht könnte auch bei einem entsprechenden Wettbewerb talentierter Fünftklässler vorgetragen werden – und nein: Man muss nicht selbst Lyriker sein, um den Inhalt und die von den Autoren verstecke Aussage wirklich zu verstehen.

Lassen wir das – immerhin gibt es noch weitere Kritikpunkte: Sämtliche Szenen werden nur mit einer Kamera gefilmt, was wohl den Eindruck einer echten Doku erwecken soll. Klappt nicht, da die Darsteller keinesfalls wie echte Menschen agieren. Hinzu kommt (und das ist neben den Schauspielern das Nervigste), dass sich alle Fakten durch Off-Sprecher und die zahlreichen Interviewpassagen etliche Male wiederholen. Fernsehen für die unterste Bildungsschicht muss wohl alles Geschehene zwölf Mal vorkauen, ehe es vom Publikum verdaut werden kann. Im Laufe der Episode kommt heraus, das Melanie teilweise gezwungen wird, die Toilette mit einer Zahnbürste zu reinigen – auch hier wieder: Extreme bildliche Darstellungen, damit auch die bügelnde Hausfrau und der nebenbei chattende Jugendliche aufmerksam wird. Wer Niveau und Anspruch erwartet, überlegt derweil ob er während der Stunde nicht selbst lieber zur Zahnbürste greift und Toilette, Dusche oder sonstiges sauber macht.

Ins Abseits stellt sich «4 kämpfen für dich», als man neben der eigentlichen Episodengeschichte auch noch Privates der Sozialarbeiter in den Mittelpunkt stellen will. Dass Jugendclub-Leiter Frank geschieden ist interessiert genauso wenig wie die unromantische Beziehungskiste zwischen Nina und dem ehrenamtlich im „Bam“ arbeitenden Stefan. Die Szenen erzeugen - wie das gesamte Format – keine Nähe, sondern Distanz. Das schlägt sich auf die Quote nieder, weshalb wohl auch der Jugendclub „Bam“ bald wieder stillgelegt wird.

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