First Look

«Mute»: Netflix marschiert durch Berlin

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Ein Mann sucht im Berlin der Zukunft verzweifelt die Frau, die er liebt: Der zweistündige Netflix-Film will ein Panoptikum der Unterwelt vorführen – und ist erzählerisch wie optisch ein Desaster.

Cast & Crew

Produktion: Liberty Films UK und Studio Babelsberg
Regie: Duncan Jones
Drehbuch: Michael Robert Johnson und Duncan Jones
Darsteller: Alexander Skarsgård, Paul Rudd, Justin Theroux, Seyneb Saleh u.v.m.
Kamera: Gary Shaw
Produzent: Stuart Fenegan
Seit einem Unfall als kleiner Junge kann Leo (Alexander Skarsgard) nicht mehr sprechen. Die Ärzte hätten seine Stimme damals retten können, doch seine Amish-Eltern waren gegen den Eingriff. Gott würde es schon richten.

Dreißig Jahre später, in einer wohl noch etliche Jahrzehnte entfernten futuristischen Zeit, lebt Leo in Berlin in einer dieser Altbauwohnungen, die auch in Zeiten von Drohnenlieferungen, omnipräsenten steampunkigen Gerätschaften und noch weitaus exzentrischeren Lebensstilen nicht aus der Mode kommen. Trotz einiger unvermeidlicher Kompromisse hat er seine Amish-Wurzeln nicht aufgegeben, und gestattet sich zwar aus freien Stücken Strom, muss aber zur Benutzung eines Smartphones bereits beträchtlich überredet werden.

Sein Geld verdient er sich als Bartender in einem Strip-Club. Für den Job muss er immerhin nicht sprechen. Im selben Laden kellnert auch die Frau, die er liebt: Naadirah (Seyneb Saleh), attraktiv, fürsorglich, liebenswert, die Haare so blau wie Marge Simpson, aber eben: mit einem düsteren Geheimnis. Sie muss Leo verlassen. Warum und wohin, das kann sie ihm nicht sagen.

Er macht sich auf die Suche nach ihr, durch die apokalyptisch-dystopische Berliner Unterwelt, wo der beeindruckende technische Fortschritt zur menschlichen Verrohung geführt hat. Michael Robert Johnson und Duncan Jones stellen uns ein Panoptikum des Kuriosen und Abartigen vor: zwei amerikanische Chirurgen (einer von ihnen gespielt von Paul Rudd, dem mit Abstand bekanntesten Namen dieses Films), die in ihrer improvisierten Schwarzmarktklinik wahlweise zerschossene Verbrecher wieder zusammenflicken oder, je nach Auftragslage, deren Gegner professionell foltern. Ebenso das Strichermilieu von morgen, in das – so wird zumindest früh impliziert – auch Naadirah mal involviert war. Finstere Gestalten und befremdliche Sexroboter geben sich bei Leos Streifzug die Klinke in die Hand.

Doch diesem Panoptikum fehlt es vollkommen an einer visuellen wie narrativen Kohärenz: Das Drehbuch ist wirr, unstrukturiert, und die meisten Charaktere schlecht durchdacht: Die Auflösung wird eingeleitet, weil eine der Figuren aufgrund einer verhältnismäßigen Nichtigkeit ihre Loyalität aufgibt, während Jones auf eine nennenswerte Erzählung nahezu völlig verzichtet: Ihm schien es genug der Ambition zu sein, eine beliebige futuristische Metropole zu entwerfen, deren prekär-niederträchtige Milieus er zwei Stunden lang von einer Figur abgrasen lassen will, die nicht sprechen kann. Eine solche Rolle, ohne auf Dialoge zurückgreifen zu können, mit starken Eigenschaften zu charakterisieren und erzählerisch einnehmend darzustellen, ist eine besonders schwierige Herausforderung. Jones nimmt sie nicht einmal an, obwohl sie ja einen interessanten Ansatz böte: nämlich den Konflikt zwischen ihrer religiös technophoben Amish-Prägung und einer völlig durchtechnisierten Welt, mit Sex-Robotern und Drohnen, permanenter Sprach- und Gesichtserkennung und grellen Lichtern. Doch dieses Thema wird von «Mute» fast vollkommen ignoriert.

Es fällt schwer, zu erkennen, was hier überhaupt erzählt werden soll: Ein Mann ist auf der Suche nach der Frau, die er liebt, und gerät allenthalben an irgendwelche Sonderlinge, die ihm deshalb ans Leder wollen. Das ist für sich genommen etwas dünn. Doch all die psychologisch-erzählerischen Motive und Methoden, die einen solchen Plot im Normalzustand emotional und intellektuell unterfüttern – eine Katharsis etwa, oder eine wie auch immer geartete (Selbst-)Erkenntnis oder Charakterwandlung dieser Figur, ein Hadern mit den eigenen Überzeugungen, ein essentielles menschliches Thema – finden sich allenfalls als kurze, schneidig gemeinte Dialogfetzen oder alibihafte Abrisse.

Verglichen mit einschlägigen Produktionen kann «Mute» visuell nicht bedeutsam mehr punkten als mit seiner desaströsen Narrative: Jones‘ futuristisches Berlin überzeugt weder mit einer besonderen technologischen Weitsicht noch mit einer sonderlich gelungenen künstlerischen Vision. Vielmehr sieht es aus wie ein in die Zukunft transportiertes Gotham aus dem 1989er Batman-Film, das optisch suggerieren sollte, die Hölle sei aufgebrochen und hätte sich in eine Metropole fortgepflanzt, oder wie eine um ihre Kohärenz und ihre übergeordnete Vision beraubte «Blade-Runner»-Welt, die billig in Babelsberg nachgepfuscht wurde.

Angesichts dieser katastrophalen Zustände muss es einem leidtun um Hauptdarsteller Alexander Skarsgard, der seiner generischen Figur zumindest etwas Individualität abzuringen versucht, und die noch relativ unbekannte Seynab Saleh, die sich mit ihrem einnehmenden, filigranen Spiel für (deutlich) Höheres empfiehlt as dieses C-Movie-Gestocher in der futuristischen Pandora-Kiste.

«Mute» ist bei Netflix verfügbar.

Kurz-URL: qmde.de/99507
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