1 Stunde Wahnsinn

Zwischen Anerkennungskultur und Waschbären

von
Quotenmeter.de-Redakteure schauen fern. Eine Stunde lang, 24 Ausgaben - also ein ganzer Tag. Heute: 15.00 bis 16.00 Uhr.

Es ist 15 Uhr. Pünktlich beginnt das erste deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Claus Erich Boetzkes führt souverän durch diverse Meldungen des Tages. Es ist von „Anerkennungskultur“ die Rede – Die Bundesregierung pocht auf ein Verfahren, das die Achtung der Berufsausbildung von Migranten in ihrer ehemaligen Heimat zum Gegenstand haben soll. Wieso nur habe ich das Gefühl, dass das Niveau der Nachrichten in keinster Weise von den Sendungen, die unaufhaltsam auf mich zusteuern, gehalten werden kann?

Ich schalte um. «Verdachtsfälle» bei RTL. Matthias, der Ehemann von Kerstin ist seit dem gestrigen Tage unauffindbar. Letztere erkundigt sich gerade in einer Autowerkstatt nach seiner angeblichen Präsenz, doch ein Mechaniker gibt zu Protokoll, ihr Lebensgefährte sei überhaupt nicht dort gewesen. Kerstin ist zutiefst erschüttert und tut das, was jede vernünftige Frau im Falle eines solchen Schockmomentes tun würde: Sie fährt zu Renate, ihrer besten Freundin. Auch diese kann es kaum fassen. Der treue Matthias, ein Lügner? Im Sekundentakt wiederholt die Stimme aus dem Off, dass es sich bei Kerstin um die Mutter zweier Kinder handelt – Womöglich gedenken die überbezahlten Drehbuchautoren dem Zuschauer zu vermitteln, dass der Nachwuchs der beiden etwas mit dem Verschwinden des Vaters zu tun haben könnte. Renate und Kerstin suchen die überaus hilfsbereite Polizei auf, die auf der Stelle einen Computerabgleich durchführt. Das Ergebnis: Matthias befindet sich nicht im System! Ist Matthias Mitglied der Mafia? Hatte er die schlechten Schauspielkünste seiner Frau satt? Ich werde es nie erfahren, denn ein weiteres Mal nutzt mein Finger die lebensnotwendige Funktion der Fernbedienung.

«Richterin Barbara Salesch». Gott segne Sat 1. Überraschend, dass es noch Qualität im deutschen Fernsehen gibt, ich hatte die Hoffnung beinah' aufgegeben. „Kai Schmiedebeck, 32, Opfer“ vermeldet die Einblendung, ebenso wie der gute Mann selbst. Von Mara, der Angeklagten, bekam er Whiskey serviert, in dem sich Spurenelemente einer Pflanze namens Blauer Eisenhut befanden. Hätte Kai das Glas vollständig geleert, wäre er nun mehr oder minder tot. Unvorteilhaft. Ergo: Gerichtsverhandlung! Mein Kopf droht zu explodieren, die oberflächliche Konversation zwischen den einzelnen Laiendarstellern sprengt alle Fremdschäm-Skalen.

ProSieben hat mit einer Ausgabe «We are Family» deutlich mehr zu bieten. Alles dreht sich um Adi (Guter Titel für eine potentielle ProSieben-Show), der eine grandiose Vision in Aussicht stellt: Ein Bühnenprogramm mit Waschbären! Merke: Dinge, die die Welt gebraucht hat: 1. Hugh Jackman als Wolverine. 2. Waschbärshows. Adis Frau tritt in die fantastische Szenerie ein und äußert das Bedürfnis, mit ihrem Gatten einkaufen zu gehen. Doch Adi hat keine Zeit – er muss Rocky trainieren! Verstehst du denn nicht? Es geht um ein Bühnenprogramm – Mit Waschbären! Edlere Ziele gab es nie.

Nächster Sprung ins Ungewisse: Werbung bei VOX, die sich glücklicherweise in diesem Moment ihrem Ende nähert. „Diese Kinder brauchen ihre Hilfe!“ Es scheint so simpel zu sein. Eine SMS mit dem Stichwort „Hilfe“ an eine bestimmte Nummer schicken und der geruhsame Schlaf ist gesichert. Plötzlich finde ich mich in Stars Hollow wieder, dem Zuhause der «Gilmore Girls». Durch Loralais Partner Jason wird mir augenblicklich klar, dass ich mich in einer Folge der vierten Staffel befinden muss. Hier fühle ich mich wohl. Sieht man die beiden allerdings zum ersten Mal, kann man den heftigen Wortgefechten auf erzählerischer Ebene wohl keineswegs folgen und sieht sich gezwungen weiter zu zappen.

Nirgends verweile ich nennenswert lange. Computergenerierte Dinosaurier-Animationen schreiten in der gezeichneten Mangawelt der RTL II Serie «Dinosaur King» voran. Die Flüche der Kardashians werden auf E! Entertainment bis zur Unkenntlichkeit mit Pieptönen zensiert. MTV offeriert – wie könnte es anders sein – keinerlei Musik, sondern mit Untertiteln ausgestattete, amerikanische Realityshows. Bibel TV zeigt währenddessen glückliche, schlittenfahrende Kinder, während Zitate aus dem Buche Gottes eingeblendet werden und christliche Musik das Trommelfell attackiert.

Weiter geht’s mit «9Live Pronto». Das Leben hat wieder einen Sinn. Es werden Wörter gesucht, die mit „Schul“ beginnen. Unverzüglich beginnen sich meine Gedanken zu drehen. Schulhaus. Schulfest. Schulung. Das lautstarke Geschrei des Moderators befördert mich zurück in die Realität. 150 Euro kann man gewinnen, dazu kommt die potentielle Geldleitung, was bedeutet, dass der Betrag von 100, 200 oder 300 Euro, abhängig von genutzer Verbindung, zu den garantierten 150 addiert wird – ein Geschäft erster Güte. Die Antwort eins Anrufers lautet „Schulveranstaltung“ und verschuldet es, dass irgendetwas in diesem Moment tief in mir stirbt. 10 Euro werden der Dame zugestanden, ebenso wie der sofort folgenden zweiten Anruferin. Erst Kandidatin Nummer drei vermag es, eine richtige Lösung zu liefern. Das Wort „Schulfest“ bringt ihr 250 Euro ein. Sie erläutert, dass 9Live inzwischen nicht mehr angibt, in welcher Geldleitung man sich befindet und man dadurch möglichen Profit mindert. Kein vom Sender verursachtes Problem, meint der Moderator und begrüßt die nächste Stimme.

Ich zappe weiter. Astro TV zeigt Andrea Buchholz, die eine anonyme XXL Beratung anbietet. Man müsse nur anrufen und könne alles über die eigene Zukunft im Jahre 2010 erfahren. Nach wenigen, erklärenden Worten starrt Buchholz in die Kamera. Stille. Mein Geist verliert sich in ihren ausdruckslosen Augen. Nach circa drei Minuten behauptet sie „Jetzt wird’s gleich klingeln“. Und man wird es mir nicht glauben, aber es klingelte. Ich habe es immer gewusst: Fernsehen bietet Wahrheit.

Kurz-URL: qmde.de/38967
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelABC: Weniger Folgen für «V» und «Forgotten»nächster ArtikelVorletzte Show des Jahres: «Pocher» mit Rückblick

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Fabian Riedner Veit-Luca Roth

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung