Die Kritiker

«Winterjagd»

von

Im ZDF schlägt die kommenden Wochen vier Mal die 'Stunde des Bösen'. Den Auftakt zur Thrillerreihe, die ausschließlich von Regisseurinnen verantwortet wird, macht ein schneidendes Kammerspiel.

Cast und Crew

  • Regie: Astrid Schult
  • Drehbuch: Daniel Bickermann, Astrid Schult
  • Darsteller: Carolyn Genzkow, Michael Degen, Elisabeth Degen, Annette Mayer
  • Kamera: Eva Katharina Bühler
  • Schnitt: Vincent Assmann
  • Musik: Philipp Noll, Axel Huber
  • Produktionsfirma: Venice Pictures
Vor wenigen Jahren präsentierte das ZDF in seinem Spätprogramm eine Reihe kurzer, knackiger, für das öffentlich-rechtliche Fernsehen atypischer Thriller. Verantwortlich für diese "Stunde des Bösen"-Reihe waren die Redaktion Das kleine Fernsehspiel und eine Riege unverbrauchter Regietalente. Diesen Oktober setzt sich die Marke fort – und dieses Mal präsentiert der Mainzer Kanal im Rahmen der Suspense-Reihe ausschließlich Thriller von jungen Regisseurinnen.

Claudia Tronnier, Redaktionsleiterin ZDF/Das kleine Fernsehspiel, erklärt: "Für junge Talente, die sich bereits in ihren Debütfilmen erfolgreich dem Genre genähert haben, bieten sich anschließend gute Möglichkeiten, für das Fernsehen und anderswo weiter zu arbeiten. Sie sind gefragt. Wir wollten wissen, wie junge Regisseurinnen im Genre Thriller Regie führen, einem Genre, das bisher eher von ihren männlichen Kollegen besetzt ist. Wir sprachen gezielt junge Regisseurinnen an, ob sie Lust hätten, einen Thriller für Das kleine Fernsehspiel zu inszenieren. Und das hatten sie."

Die somit geförderten Talente verfassten zudem selber das Drehbuch, unterstützt von je einem Ko-Autor. Für «Winterjagd» ist Astrid Schult verantwortlich, die bisher ausschließlich im Dokumentarfilmsektor tätig war – dort heimste sie mit «Der innere Krieg» immerhin bereits eine Grimme-Preis-Nominierung ein. «Winterjagd» ist nun ihr Spielfilmdebüt – doch es sieht aus wie die Arbeit einer routinierten Spannungsregisseurin. In atmosphärisch ausgeleuchteten, eine beengende Farbästhetik aufweisenden Bildern (Kamera: Eva Katharina Bühler, «SOKO Köln») erzählt sie ein packendes, wendungsreiches Kammerspiel über Schuld, die nicht verjährt.

Der bereits über 90 Jahre alte Unternehmer Anselm Rossberg gerät in die Presse: Seine Auschwitz-Vergangenheit wird derzeit intensiv diskutiert. Die 25-jährige Lena verschafft sich Zutritt zu dem einsam gelegenen, prächtigen Haus des Kriegsverbrechers und kommt mit Anselms 60-jähriger Tochter Maria in Gespräch. Die leugnet nicht nur die Anwesenheit ihres Vaters, sondern erklärt der jungen Frau, dass ihr Vater nicht den medialen Hass verdient habe, den er erhält. Die wahren Verbrecher seien ja alle bereits tot, und Anselm wäre ja nur ein kleines, unwissendes Rädchen im Getriebe gewesen. Als Lena Anselm entgegen der Aussagen seiner Tochter sehr wohl in seinem Haus aufspürt, bedroht sie ihn mit einer Waffe. Es entbrennt ein schonungsloses Gericht der Selbstjustiz, in dem der alte Patriarch um sein Leben argumentiert, Lena Rechtschaffenheit für die Holocaustverbrechen einfordert und sich Maria entscheiden muss, wofür sie einsteht.

Die grundlegenden Dilemmata des Kammerspiels «Winterjagd» drängten sich Astrid Schult bereits bei den Recherchearbeiten zu «Das letzte Kapitel» auf: Es gibt kaum noch lebende Zeitzeugen, die von damals berichten können, bloß zirka 30 SS-Wachleute sind von deutschen LKAs ermittelt und von den Staatsanwaltschaften angeklagt worden, viele dieser Verfahren wurden allerdings wegen Verhandlungsunfähigkeit der greisen, mutmaßlichen Täter eingestellt. Schult fragt in einem Statement zum Film: "Ein Justizversäumnis und ein Dilemma: Wer möchte schon alte Männer und Frauen, die kurz vor dem Tod stehen, noch zur Verantwortung ziehen? Ist das späte Gerechtigkeit?"

Mit den Mitteln der Fiktion führt Schult in «Winterjagd» ihre innere Debatte aus: Wenn zwischen Lena, Anselm und Maria ein flammendes Rededuell ausbricht, in dem sich unentwegt die Machtverhältnisse verschieben und die Figuren ständig ihre Taktik ändern, zieht Schult tiefe Schneisen und wühlt gesellschaftliche Trauma ebenso auf wie die verquere Logik der Holocaust-Helfer niederen Rangs. Da sollen Anschuldigungen doch gefälligst vergessen werden, weil die Beschuldigten zwar in einem KZ aushalfen, jedoch seien sie nicht für das exakte, gerade behandelte Verbrechen verantwortlich, sondern für andere. "Ich habe zwar im KZ gearbeitet, aber nein, Jüdin XY habe ich nicht verletzt, also bin ich unschuldig" – bestechende Argumentation …

Das in packende Bilder gehüllte Anklage- und Gegenklage-Spiel Schults besticht insbesondere durch das herausragende Casting: Anselm wird vom jüdischen Schauspieler Michael Degen gespielt, der in den aggressiven Momenten Anselms eine glühende Wut durchblitzen lässt, durch welche der rüstige Senior äußerst abscheulich gerät. Gleichwohl weiß er auch, sich in den Momenten, in denen Anselm zu verhandeln versucht, so sehr zurückzunehmen und eine altersbedingte Verletzlichkeit an den Tag zu legen, um lange im Unklaren zu lassen: Wie abscheulich ist Anselm denn nun? Verdrängt er seine Taten oder hat er sich bereits ausgiebig selbst gepeinigt und markiert nun vor seiner Tochter im Angesicht eines Angriffs den starken Beschützer?

Degens Tochter Elisabeth macht im Gegenzug sehr gut den inneren Kampf ihrer Figur deutlich: Gebeutelt von den ständigen Verbalattacken auf ihren Vater und den Vorwürfen, sie sei als dessen Nachfahrin ebenso schuldig, zeigt sie sich gegenüber Lena zunächst defensiv – aber in ihrem verletzten Blick wird deutlich, dass sie der Diskussion zwischen ihr und Anselm gebannt und leidend folgt. Carolyn Genzkow («Frühling», «Der Nachtmahr») wiederum gibt eine starke, glaubwürdige Performance als an ihrer Wut auf Anselm nahezu verzweifelnde junge Frau, die das Recht selbst in die Hand nehmen will, aber allem Hass zum Trotz davor scheut, sich auf das moralische Niveau ihres Gegenübers herabzulassen.

Komplett frei von Leerlauf ist «Winterjagd» ein wichtiger Thriller, der deutsche Traumata ins Rampenlicht zerrt und dank drei packender Schauspielleistungen trotzdem nie didaktisch wirkt, sondern sich schlicht als prägnantes Spannungsfernsehen präsentiert.

«Winterjagd» ist am 2. Oktober 2017 ab ca. 23.55 Uhr im ZDF zu sehen.

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