Popcorn & Rollenwechsel

Cinema Purgatorio – Woran Filmkritiker leiden

von

Als Filmkritiker sitzt man nicht rund um die Uhr im Kino und glotzt selbstzufrieden auf die Leinwand: Vier Mitglieder dieser cinephilen Zunft verraten, welche Ärgernisse sie in ihrer Tätigkeit plagen.

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Jörg Gottschling, freiberuflicher Texter und Journalist
Wer behauptet, ein Filmkritiker lebt ein cineastisch aufbrausendes Leben auf der Überholspur ratternder Filmrollen, der vermag bisher noch nicht zu sehen, dass wir uns nicht nur über gute Filme freuen dürfen, sondern wirklich alles sehen müssen. Obendrein setzen wir uns im Hintergrund jeden Tag mit schwerfälligen Presseservern auseinander und sind der scheinbaren Willkür mancher Verleiher ausgeliefert, die in ihren kleinen Köpfen wieder große Dinge planen und dabei nicht merken, dass weniger manchmal mehr ist.

Die Hürden des Filmkritikers liegen dabei vor allem in einem lückenhaften Informationsfluss: Auf der einen Seite wird man mit Trailern überflutet und auf der anderen Seite darf man bis eine Woche vor Kinostart noch auf das offizielle Filmplakat warten. Obendrein zeigt sich so manches Presseheft als lexikalisch-biografische Auflistung des Werdeganges von Hauptdarsteller, Regisseure bis hin zum Maskenbildern und scheitert daran, dem Filmkritiker eine gescheite Inhaltsangabe mitzuliefern. Diese fünf Dinge nerven mich als Filmkritiker jedoch am meisten:

1. Kinostartänderungen:


Wie oft fieberte man einem Termin entgegen und malte sich im Geiste schon einen perfekten Kinobesuch aus, nur um dann festzustellen, dass man noch ein paar Monate länger darauf warten musste, als gedacht? Es ist natürlich durchaus legitim, wenn der ein oder andere Film aus bestimmten Gründen (z.B.: die Konkurrenz ist zu hoch, der Film noch nicht fertig, die Synchro hat Probleme, die Zeit ist einfach nicht reif) nach hinten oder manchmal auch nach vorne verschoben wird. Aber der Halbtagsfilmkritiker kann nicht auf jeden Film zu jeder Stunde ein Auge drauf haben. Und wenn dann (trotz Presseakkreditierung) die E-Mails mit den Hinweisen auch noch ausbleiben, verkündet man als Filmkritiker schnell mal den Kinostart eines Filmes in der verkehrten Woche. Für einen wohl-geplanten Blogger, der Kinostart-Meldungen oft Wochen im Voraus plant und den Film gar nicht mehr auf dem Schirm hat, kann dieser fehlende Informationsaustausch beziehungsweise diese „plötzliche“ Kinostartänderung schnell peinlich werden.

2. Willkürlich-unlogische Filmtiteländerungen:


Meine Kritik an Kinostartänderungen lässt sich bei Filmtiteländerungen nahtlos fortsetzen. Denn auch hier ist man nicht immer sofort darüber im Bilde, um welchen Film es sich eigentlich gerade wirklich handelt. Klar, kann man bei fremdsprachigen Filmen den Titel nicht immer geschickt und wohlklingend ins Deutsche übersetzen. Eine Neubetitelung ist so oft unumgänglich. Doch hierin liegt eigentlich gar nicht der Kern meiner Kritik verborgen.
Schlimm wird es erst in dem Moment, wenn die Verleiher ihrer Kreativität freien Lauf lassen und auf das Fahrwasser erfolgreicher Filme aufspringen wollen oder sich von diesen distanzieren müssen. Dieses Jahr schaffte es Disney mal wieder für Verwirrung auf breiter Ebene zu sorgen, indem aus «Tomorrowland» zunächst [Projekt: Neuland]] wurde, nur um dann in «A World Beyond» umgetauft zu werden. Zwar hatte hier die erste Änderung rechtliche Gründe, mehr als eine Neubetitelung muss jedoch wirklich nicht sein. Lieber eine Woche länger am neuen Titel feilen, als alle zwei Woche den Titel ändern.

Gerne neigt man auch dazu, dass dem Originaltitel noch auf zweiter Ebene eine weitere Überschrift dazu gedichtet wird, damit der Zuschauer auch kapiert, dass es sich um einen Film aus derselben Reihe handelt – in diesem Fall durchaus nützlich, wenn es denn wirklich immer Filme aus derselben Reihe wären. Und was Wild Bunch dazu getrieben hat, aus «Burnt» am Ende «Im Rausch der Sterne» zu machen, ist mir bis heute nicht klar. Die Mühe hätte man sich ohnehin sparen können, den berauschend ist der Film wirklich nicht.

Aber das sind hier nur zwei Beispiele aus dem aktuellen Kinojahr, die einen Filmkritiker zum Meisterdetektiven machen, der akribisch digitale Filmdatenbanken durchkramt und nach dem wahren Film hinter einem kryptisch-deutschen Titel forscht.

3. Die unnötige Trailerflut:


Ein Blockbuster erhält heute mindestens drei reguläre Trailer. Dazu kommen noch der „finale Trailer“, Dutzende Filmclips und eine Handvoll Featurettes, die einen Blick hinter die Kulissen der Produktion erlauben. Alleine, was das bewegte Bildmaterial anbelangt, ist der potentielle Kinobesucher schon übersättigt, bevor er überhaupt im Kinosaal mit seiner überteuren Tüte Popcorn sitzt. Seit einigen Jahren bleibt es zudem gar nicht bei den großen Produktionen, sondern auch die Kleinen erhalten ihre audiovisuelle Werbefläche in Form von Trailerfluten im Internet.
Die Folge dieses Wahns, den der Zuschauer sogar verlangt, indem er immer wieder nach neuen Bilder zu «Star Wars VII» brüllt, zeigt sich an einer eiskalten Animationsfortsetzung sehr gut: «Ice Age 3» ist es gelungen, fast EIN VIERTEL des Films in Trailer und Clips vorab im Internet zu verbreiten. Ein lobenswerte Leistung, die jedoch einer marketing-technischen Katastrophe gleicht. Immerhin läuft man Gefahr, so ziemlich jedes Highlight eines Filmes bereits vor dem offiziellen Start zu verschleudern. Besucht werden diese Filme dann trotzdem, weil man sich als Zuschauer noch mehr erhofft. Doch am Ende wird man unweigerlich nur enttäuscht. Brillant vergeigt hat es so auch 20th Century Fox mit den «Minions». Die besten Szenen waren größtenteils in die Trailer und Clips verpackt und das große Lachen wurde im Kinosessel zu einem kleinen Schmunzeln degradiert, da der Zuschauer die wenigen wirklich guten Stellen leider schon kannte.

4. Launische Presseserver:


Der Zuschauer will Bilder, Trailer und harte Fakten zu seinen heiß-erwarteten Filmen bekommen. Das ist auch sein gutes Recht, immerhin will er auch davon überzeugt werden, dass er wirklich diesen oder jenen Film nicht verpassen darf. Bis dieses Material jedoch für ihn zugänglich ist, muss sich der Filmkritiker erst einmal selbst Zugang dazu verschaffen. Mittlerweile ist dies in unserer heutigen, digitalen Welt deutlich einfach als noch vor zehn Jahren. Und doch hinkt so mancher Presseserver in all seiner Kompliziertheit hinter her. Das Passwort stellt sich hier nur als das kleinste Problem heraus: In manchen Pressebereichen hält man sich Minuten, manchmal gar Stunden auf, um sich sein Material zusammen zu suchen und diesen dann herunterzuladen, nur um es dann für sich noch mal neu zu bearbeiten und auf seinen Portalen und Blogs wieder hochzuladen. Die Zeit für Kreativität bleibt hier auf der Strecke. Tatsächlich verbringe ich mehr Zeit damit, das Material zu sichten, zu ordnen und zu verarbeiten als ich für das Schreiben von Kritiken aufwende – wenn dann auch noch der Server streikt, ist die Nachtschicht schon vorprogrammiert.

5. Optimistisch-unrealistische Sperrfristen:


Zu guter Letzt noch eine der größten Hürden, die dem Filmkritiker in den Weg gelegt werden: Die Sperrfrist. Da darf man schon mal zwei Monate vor dem Kinostart den Film sehen, aber erst zwei Tage vorab über den Film berichten. Währenddessen muss man mit zusammengebissenen Zähnen mitansehen, wie die PR-Maschinerie einen mittelmäßigen Film zum Sommerhighlight verklärt. Natürlich ist diese Taktik legitim und der PR-ler in mir würde nicht anders vorgehen, doch Sperrfristen sind nicht nur ein großer Nachteil für den Filmkritiker, sondern vor allem für den Zuschauer, der sich informieren möchte, und das nicht erst einen Tag vorab. Obendrein ist durch den Konsum von Serien und Filme im Originalton sowieso ein Großteil der Zuschauer in der Lage, fremdsprachige Kritiken zu lesen, die bereits vorher das Internet überschwemmen.
Andersherum trifft es nicht selten auch wirklich gute Filme, bei denen eine Sperrfrist verhindert, dass sie schon frühzeitig gute Presse erhalten und dadurch Gefahr laufen, vom Zuschauer verpasst zu werden, weil dieser sich für diesen Kinomonat bereits für andere Filme entschieden hat.

Auf der nächsten Seite wird es persönlich! Denn dann lassen wir die Steinchen, die uns in den beruflichen Weg gelegt werden, aus den Augen. All das, um uns den anstrengenden Wesenszügen zu widmen, die unserer Zunft so häufig vorkommen …


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