360 Grad

Jede Woche um den heißen Brei

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Julian Miller fühlt sich von den Polit-Talks im Ersten schon lange nicht mehr abgeholt. Das größte Problem: «Günther Jauch».

Die Grünen haben für den Bundestagswahlkampf im nächsten Jahr eine neue Doppelspitze gewählt und Claudia Roth ausgebootet. Aus Griechenland kommen täglich neue Hiobsbotschaften. In Portugal wird massiv gegen den Besuch der Bundeskanzlerin protestiert. In den USA ist die republikanische Partei nach den demographischen Verschiebungen der letzten Jahrzehnte am Ende und muss sich erneuern, wenn sie landesweit wettbewerbsfähig bleiben will. Israel attackiert mehr als ein Dutzend Ziele im Gaza-Streifen.

Und worüber sprechen die Polit-Talks des Ersten?

Am Sonntag ging es bei «Günther Jauch» um den Brennpunkt Niedriglöhne. Die Woche zuvor hatte er mit seinen Gästen analysiert, ob es moralisch vertretbar ist, die Oma nach Thailand oder Bulgarien abzuschieben, wenn man das Altenheim in Deutschland nicht bezahlen kann. Das war zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten.

Am vergangenen Montag sprach Frank Plasberg über die horrenden Mietpreise in deutschen Ballungszentren. Durch Plasbergs kritisches Nachfragen kam zwar etwas Biss in die Sendung, doch leider war das Thema als solches in bester Baumarkt-Tradition nahezu vollkommen unpolitisch und zu sehr auf eine massenkompatible und gehaltlose Umsetzung getrimmt, als dass sich nennenswerte Erkenntnisse hätten einstellen können.

Eine kleine Ausnahme aus dem Mikrokosmos der politischen Relevanzlosigkeit gab es am Dienstag bei Sandra Maischberger, die sich der Grundsatzfrage um Verschiebungen im internationalen Mächtegefüge annahm. Doch derartige Themen sind bei ihr schon lange nicht mehr die Regel. Auch Maischberger greift nahezu wöchentlich in den Schwurbel-Schwafel-Quassel-Topf und moderiert sich von den Problemen des Älterwerdens über Glücksspielsucht bis hin zur Frage, ob Dicke im Winter weniger Heizung brauchen.

Das bisschen Ehrenrettung kommt, sofern Maischberger nicht wie diesmal eine überraschend starke Woche hat, dann oft nur noch von «Anne Will», die sich am Mittwochabend in einem interessant geführten Gespräch mit ihren Gästen über Peer Steinbrücks Nebentätigkeiten unterhielt. Doch auch Will leistet sich Ausreißer nach unten; etwa wenn sie Angelika Kallwass zum Thema „Alle auf Sinnsuche – Hat die Kirche noch Antworten?“ einlädt.

Ich fühle mich von den ARD-Polit-Talks schon lange nicht mehr abgeholt. Hauptsächlich, weil ich mich eher für politische als für Boulevard-Themen interessiere und sie auf einem angemessenen intellektuellen Niveau vorgetragen bekommen möchte.

Aber da bin ich vor allem sonntags in der ARD falsch, auf dem traditionellen Sendeplatz hochwertiger journalistischer Talk-Formate. Denn dort steht mittlerweile Günther Jauch mit Brathähnchen im Gasometer. Oder lässt seine Gäste, wie in seiner vor wenigen Wochen ausgestrahlten Ausgabe über den Fall Kachelmann, falsche Dinge behaupten, die er dann, ohne korrigierend einzugreifen, so stehen lässt. Der Aberwitzigkeit setzt es dann natürlich die Krone auf, dass ARD-Chefredakteur Thomas Baumann in einem erstaunlich arroganten Duktus ankündigte, aus der Desastersendung "keine Lehren ziehen" zu wollen - ohnehin gibt es laut «Günther Jauch»-Chefredakteur Andreas Zaik ja auch „keine allgemeingültige Wahrheit“ (ein Argument, das man sich einmal auf der Zunge zergehen lassen sollte). Stefan Niggemeier hat glücklicherweise schon lange und ausführlich erklärt, dass das Unsinn ist.

Mit Journalismus hat «Günther Jauch» nicht mehr sonderlich viel zu tun – und mit ihrem Widerwillen zu jeglicher Komplexität, ihrer ständigen Vereinfachung und Verfremdung, ihrer Überzeugung, Jürgen Klinsmann könne zu einem Gespräch über die politischen Auswirkungen des 11. Septembers etwas Sinnvolles beitragen, ihrer sonderbaren Gästeauswahl, die nahezu null Wert auf Expertenstatus legt, sondern darauf, dass eine möglichst breite Zuschauerschaft alle Gäste bereits kennen soll, steht die Sendung in bester «Stern tv»-Tradition. Und ist diesem Sendeplatz somit vollkommen unwürdig.

Aber Jauch ist nur die Spitze des Eisbergs, der Polit-Talk, in dem am meisten schief geht und an dem man am einfachsten ablesen kann, welche Ziele die ARD mit ihren Talkformaten verfolgt. Die Zuschauer über komplexe Themen zu informieren, kann jedenfalls nicht das oberste Gebot all dieser Quasselsendungen sein. Dann würde man nicht Ranga Yogeshwar und Niki Lauda einladen, um über zu hohe Benzinpreise zu sprechen. Es ist vielmehr ein ständiges Anbiedern an den kleinsten gemeinsamen Nenner, an einen Minimalwissensstand der Zuschauer, manchmal gar an das Hinterzimmer im Wirtshaus, wo es endlich mal einer sagt. Wieso über komplexe geopolitische Zusammenhänge sprechen, wenn der Ottonormalverbraucher aus Bracken an der Ruhr seine Freizeit zu weiten Teilen im Baumarkt verbringt und lieber die „Bild“ als die „Zeit“ liest, weil letztere zu viele unbekannte Buchstaben hat.

Lustig ist es da natürlich, wie man sich bei der ARD über Raabs Polit-Talk echauffiert. 100.000 Euro für den Gast, der die Meinung der absoluten Mehrheit vertritt – das scheint der journalistischen Ethik der ARD zuwider zu laufen. Lächerlich wird das Ganze aber schon dadurch, dass man es dort selbst für unproblematisch hält, Sendungen zu produzieren, die man als politisch und gesellschaftlich relevant anpreist, und die dann nicht einmal absoluten Mindeststandards gerecht werden können. Ob die Gäste renommierte Experten auf dem thematisierten Fachgebiet sind, ob man deren unwahre Behauptungen im Laufe der Sendung korrigiert, ob man relevante Themen bespricht oder auf einem dem Polit-Talk angedachten Sendeplatz über Baumärkte spricht – all das scheint zweitrangig im ewigen Einheitsgerede aus Phrasen, die vor allem Günther Jauch nicht aufdeckt, sondern auf die Kärtchen blickend abnickt, bevor es in den Zuschauerraum zur Niedriglöhnerin geht, die davon erzählen darf, wie das so ist, wenn man nur einen Stundenlohn von drei Euro und ein paar Cents bekommt und deren Sitznachbar am Ende der Sendung an die versammelte Talk-Runde sein Statement richten darf, dass keiner der Gäste an diesem Abend (unter anderem Oskar Lafontaine und Ursula von der Leyen) von dem kümmerlichen Gehalt leben könnte, das er bezieht. Ohne Populismus geht es im Gasometer nicht. Hauptsache, endlich hat's mal einer gesagt.

Politische Relevanz sieht anders aus. Für sie begeistern zu können, sie ansprechend und intellektuell hintergründig zu präsentieren, wäre eigentlich die Aufgabe von Günther Jauch. Er scheint jedoch allen Ernstes zu glauben, dies dadurch erreichen zu können, dass er seine Sendung mit zwei Brathähnchen in den Händen beginnt oder Jürgen Klinsmann einlädt. Welcher Zuschauer soll da klüger aus der Sendung gehen? Oder anders gefragt: Wie doof muss er dazu vor der Sendung sein?

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